Armenien, ausgezeichnet, Literatur

Katerina Poladjan. Hier sind Löwen (2019)

Armenien und die Türkei sind die Länder, in denen dieser Roman spielt: Helen Mazavian wurde eingeladen, in der armenischen Hauptstadt ein historisches Buch zu restaurieren. Sie tut nicht nur das mit viel Ehrfurcht vor dem Kunstwerk, sondern spürt auch ihrem eigenen Leben nach. Wer ist sie in dieser Fremde, aus der ihre Vorfahren stammen?

Aufgewachsen ist Helen bei ihrer Mutter Sara in Deutschland, doch mit einem Umweg über Moskau stammen ihre Vorfahren aus Armenien. Allerdings ist die Verbindung bei beiden Frauen abgerissen, Sara beschäftigt sich auf abstrakte Weise mit dem Land in ihrer Kunst, Helen kennt Armenien nur aus den Kunstwerken ihrer Mutter oder aus den Nachrichten. Alles weit weg. Istanbul liegt ihr näher, dort hat sie ein Studienjahr verbracht.

Buchrestauratrorin

Als Helen am Ende ihres Studiums gerade ihre Promotion angehen wollte, fand sie durch Zufall ihre wahre Leidenschaft und wechselte in eine Lehre bei einem Buchbinder. Scheinbar höchst erfolgreich, wenn sie jetzt international Aufträge erhält. In Jerewan geht es um die Restaurierung einer alten Familienbibel mit einigen Schäden und vielen Randbemerkungen. Erst ist Helen fasziniert von dem Buch, der armenischen Buchbindekunst, dann wird sie immer neugieriger auf die Menschen, die diese Bibel über Generationen weitergegeben haben. Wie konnte das Buch verloren gehen? Und war bedeuten die geheimnisvollen Bemerkungen im Buch? Helen lernt etwas Armenisch und macht sich gedanklich auf eine Suche.

Familienbande

Was Helen nur in einsamen Grübeleien erwägt, erfährt die Leserin quasi aus erster Hand: Eine Geschichte von Mord und Vertreibung, von der Flucht zweier Kinder, denen die Mutter die Bibel mit auf den Weg gegeben hat. Solche Kinderschicksale waren bereits Themen in Saras Kunst, so nah war Helen ihnen schon gekommen, früher. Heute sucht sie nicht nur nach Anhaltspunkten, was aus der Familie geworden ist, der die Bibel früher gehörte, sondern auf eine spontane Bitte ihrer Mutter hin auch nach eigenen Vorfahren. Eine eher halbherzige Suche, denn könnte Helen mit diesen Nachfahren ihrer Vorfahren etwas anfangen?

Liebe und Verlorensein

Während der Monate, in denen Helen die Bibel restauriert, versucht sie in Jerewan eine Art Leben aufzubauen: eine kleine möblierte Wohnung, die Kollegen, eine Bar … Es ist Winter in Armenien, aber nicht nur deshalb ist es kalt in diesem Roman. Helen scheint verloren durch die Fremde zu irren, und das liegt nicht nur am fremden Land, hat man als Leser den Eindruck. Die Liebe zu Levon Petrosian, dem Sohn ihrer Chefin in der Bibliothek, scheint zwar etwas verrückt, aber auch zum ersten Mal eine Art von Wärme und Sehnsucht in Helens Leben zu bringen. Doch ein Happy End erlebt diese Liebe nicht.

Kalt und spröde

Die Worte „kalt“ und „verloren“ sind bereits gefallen, und ich finde, sie charakterisieren diesen Roman sehr gut. So ist Helen, so scheint Jerewan, so scheinen die Armenier. Niemand fühlt sich wohl, ist glücklich, kennt Geborgenheit oder einen Sinn. Feste und der Besuch einer Bar sind Fluchten aus dieser unwirtlichen Realität. Gefühle werden nicht direkt angesprochen, alle Worte bleiben an der Oberfläche einer Handlung. Wenn hier Gefühle zugrunde liegen, muss man als Leser selber die richtigen Schlüsse ziehen. Trotz der Erzählperspektive aus Helens Sicht als Ich-Erzählerin bleibt der Charakter durch den ganzen Roman hindurch eher vage und fremd, kennenlernen kann man sie nicht, sie entzieht sich dem Leser genauso wie ihren Roman-Mitmenschen.

Longlist Deutscher Buchpreis 2019.

Katerina Poladjan. Hier sind Löwen. Frankfurt: Fischer, 2019.

Vielen Dank für das Rezensionsexemplar via NetGalleyDE!

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