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Joyce Carol Oates. Middle Age (2001)

Joyce Carol Oates ist fraglos eine der ganz großen literarischen Schriftstellerinnen unserer Zeit. Mehr noch: ein literarisches Phänomen. Denn ihre Romane sind nicht nur wahre Kunstwerke, sondern die schiere Anzahl der Werke der amerikanischen Schriftstellerin versetzt die Welt in Erstaunen. Mein Favorit ist Middle Age (dt. Hudson Bay) aus dem Jahr 2001. Der Roman trägt den Untertitel A Romance und handelt tatsächlich von Beziehungen. Unter anderem.

Oates erzählt in diesem Roman von Menschen in dem reichen Städtchen Salthill-on-Hudson, in dem es materielle Sorgen nicht gibt. Trotzdem sind die Menschen nicht glücklich, sind sie immer auf der Suche nach etwas. Einige fanden es in Adam Berendt, einem zugezogenen Bildhauer, einem geheimnisvollen, aber scheinbar sehr weisen Mann. Berendt stirbt am Anfang des Romans bei einem ebenso heldenhaften wie sinnlosen Unfall, und doch dreht sich die Geschichte um ihn.

Trauerarbeit

Berendt hatte viele Freunde in Salthill, vor allem viele Frauen, die gerne mehr als platonische Freundinnen gewesen wären. Nach seinem Tod trauern sie, jede/jeder auf ihre/seine ganz eigene Weise.

Marina Troy, die jüngste der „mittelalten“ Damen in Salthill und auch nicht ganz so reich, zieht sich ein Jahr zurück. Berendt hatte ihr ein Haus geschenkt, damit Marina dort wieder den Mut findet, künstlerisch zu arbeiten. Er durchschaute, dass es das ist, was ihre fehlte. Aber es braucht erst die Trauer und Verzweiflung, bis sie den Mut findet, sich dieser Angst tatsächlich zu stellen.

Lückenfüller

Lionel findet eine junge Geliebte, trennt sich von seiner Frau, um für einige Monate die Illusion einer zurückgekehrten Jugend zu leben. Als alter, kranker Mann kehrt er zurück. Seine Frau Camilla hat derweil ihre Liebe zu Hunden entdeckt und engagiert sich mit einem Eifer, den man fast manisch nennen kann, in einem Tierheim.

Abigail Des Pres ist die geschiedene Schönheit der Gesellschaft. Ohne Berendt fühlt sie sich völlig haltlos. Alkohol tröstet sie, bis sich ihr Sohn völlig von ihr abwendet. Abigail sucht einen neuen Sinn für ihr Leben, findet ihn am Ende in einem chinesischen Mädchen. Sie heiratet den Adoptivvater, redet sich beinahe ein, dass sie ihn liebt.

Owen Cuttler

Augusta Cuttler flüchtet aus Salthill. Erst orientierungslos, doch schließlich erforscht sie Berendts geheimnisvolle Vergangenheit. Und da gibt es Einiges zu entdecken. Und Augusta entdeckt ein Selbst, das sie im reichen Vorort unter eleganter Kleidung und Schmuck begraben hatte. Ihr Mann Owen wird durch diese Flucht erst aufgeschreckt, er war kein besonderer Freund von Berendt. Eher unspektakulär beendet er seine Karriere und widmet sich im großen Stil seinem Garten und der Blumenzucht. Monatelang hört er nichts von seiner Frau, gibt aber nie vollends der Verzweiflung nach, sein Klammern an die Hoffnung wird belohnt.

Roger Cavanagh

Roger Cavanagh war der Anwalt Berendts. Auch er geschieden, seine Tochter will ihn ebenfalls nicht mehr sehen. Sie verachtet seinen Beruf, einer ihrer Gründe. Für Cavanagh ein Grund, der Leere zu entfliehen und Sinn zu suchen in einem der wohltätigen Vereine, die Berendt unterstützte. Cavanagh setzt sich für die Wiederaufnahme von Strafverfahren ein, bei denen Unschuldige verurteilt wurden. Dort lässt er sich mit einer jungen Frau ein, die schließlich schwanger wird. Eine Beziehung kommt für beide nicht infrage, sie will das Kind zur Adoption freigeben – so wird Cavanagh zum alleinerziehenden Vater. Doch nur vorübergehend, denn Marina kommt nach einem Jahr aus ihrem Exil zurück …

In Salthill-on-Hudson seien alle Menschen „mittelalt“, wenn nicht biologisch so doch geistig, so Oates am Anfang des Romans. Das Leben ist gutsituiert und wohl geordnet. Der zugezogene Berendt jedoch schaffte es, mit dem Menschen hinter der Fassade zu sprechen, ihm seine Leere bewusst zu machen. Viele fanden in Berendt ihren heimlichen Sinn, erst nach seinem Tod können sie sich orientieren und ein tatsächlich eigenes Leben beginnen.

Meisterklasse

Joyce Carol Oates erzählt all das auf eine ruhige, aber sehr eindringliche Weise. Hier plätschert nichts an der Oberfläche dahin, Oates stellt komplexe Menschen mit ihren Abgründen so dar, dass man mit jedem einzelnen mitfühlen kann. Menschen mit guten und schlechten Eigenschaften; Menschen, die ihre Sturm- und Drangjahre eigentlich hinter sich geglaubt hatten; Menschen, die eine neue Orientierung suchen, nachdem ihr Zentrum „Berendt“ gestorben ist. Keine andere Autorin (oder Autor) kann auf eine so geniale und subtile Art die Charaktere ihrer Figuren zu echtem Leben erwecken.

Joyce Carol Oates. Middle Age. A Romance. New York: Harper Collins, 2001. | Hudson River. Frankfurt/M: Fischer, 2003.

Mehr zur Autorin auf der Autorenseite Joyce Carol Oates.

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