Deutschland, Literatur

Juli Zeh. Unterleuten (2016)

Kritiker und Leser überboten sich 2016 mit Lobeshymnen über Juli Zehs Roman Unterleuten … Ein Hype oder ein Roman mit Substanz? Ein Dorfroman – kann er die städtischen (Möchtegern-) Intellektuellen längerfristig begeistern? Es scheint so.

Unterleuten ist ein kleines Dorf im Nirgendwo von Brandenburg. Infrastruktur gibt es nicht, Berlin ist verdammt weit weg, nicht nur räumlich, sondern in jeder Hinsicht. Hier leben eine Handvoll Alteingesessener, die schon gemeinsam DDR-Zeiten und Wende durchgestanden haben, und einige Zugezogene, die hier die heile Welt zu finden hoffen.

Selbstverwirklicher in der Idylle

So zum Beispiel Gerhard Fließ, als Akademiker eher gescheitert, sein Weltverbesserungseifer ist nicht mehr modern. Seinen persönlichen Ausweg sieht er in Unterleuten, in seinem neuen Job als Vogelschützer und in der Ehe mit der viel jüngeren Jule und dem gemeinsamen Baby. In der ländlichen Idylle muss doch Raum sein für seinen verbissenen Idealismus, denkt er.

Oder Linda Franzen, eine junge Frau, die ihrem Freund in Richtung Berlin gefolgt ist, aber jetzt hier auf dem Land ein Paradies für ihr Pferd schaffen möchte. Dazu schuftet sie, renoviert selber und ist sich sicher, dass sie Menschen ebenso wie Pferde beherrschen und manipulieren kann, mit ähnlichen Tricks. Sie folgt dabei den Maximen ihres selbst gewählten Erfolgsgurus Manfred Gortz, dessen Buch sie scheinbar auswendig gelernt hat. Rücksichten auf die Interessen oder Gefühle anderer kennt sie nicht.

Abhängigkeiten

Doch während die Neuzugänge im Dorf zunächst nur einen idyllischen Hintergrund für ihre eigene Selbstverwirklichung sehen, haben die Alteingesessenen eine gemeinsame Geschichte hinter sich. In der ländlichen Abgeschiedenheit waren die Dorfbewohner schon immer aufeinander angewiesen, Krisen und Konflikte wurden untereinander ausgetragen, aber nicht wirklich aus der Welt geschafft. Jeder schuldet jedem irgendetwas. Die großen Umbrüche der jüngsten deutschen Geschichte haben die Unterleutener am eigenen Leib erfahren: die Enteignungen zum Wohle der neu gegründeten LPG und die Wende, die Gewohntes rückgängig machen wollte.

Windwirbel

Gerade hat man sich mit den neuen Zeiten arrangiert – die LPG ging über in die Firma Ökologica GmbH, geleitet von Gombrowski, ehemaliger LPG-Leiter und vormaliger Großgrundbesitzer, da sollen in Unterleuten Windkrafträder errichtet werden. Von „oben“ sei das längst beschlossen, es gehe nur noch um den Standort. Aber mit dem wäre ein großer Gewinn verbunden, sodass viele Begehrlichkeiten geweckt werden, Intrigen gesponnen werden und alte Konflikte wieder ausbrechen …

Perspektiven

Sehr faszinierend und gekonnt sind die Perspektivenwechsel, die Juli Zeh nutzt. Jedes der kurzen Kapitel ist aus der Sicht einer anderen Person erzählt, dabei gelingt es der Autorin, dem Leser einen unmittelbaren Einblick in die (wirklich individuelle) Persönlichkeit jeder der rund ein Dutzend Figuren zu geben. Jeder Einzelne wähnt sich im Recht, jeder will doch nur das Beste und gibt sein Bestes – warum nur geht dann trotzdem alles so schief? Vieles liegt sicher an der Art der Kommunikation, die aufgrund der jeweiligen gemeinsamen Geschichte ganz eigenen Regeln folgt und eigentlich nicht mehr funktioniert. Denn Idylle ist Unterleuten eben nur von Weitem.

Eine fantastische Geschichte über gegenseitige Abhängigkeiten, über Egozentrik und Selbsttäuschungen, über die Tücken der Kommunikation. Wunderbar erzählt, unaufgeregt und realitätsnah, dabei aber psychologisch ausgefeilt und so in Sprache umgesetzt, dass das Lesen ein eindrucksvoller Genuss ist, der lange nachhallt.

Juli Zeh. Unterleuten. München: Luchterhand, 2016.

Vielen Dank für das Rezensionsexemplar.


3 Gedanken zu „Juli Zeh. Unterleuten (2016)“

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