Deutschland

Birgit Vanderbeke. Fehlende Teile (1992)

Birgit Vanderbeke nennt ihre Protagonistin der Erzählung Fehlende Teile Lila. Oder die Erzählerin macht es. Oder Lila selber. Lila ist Schauspielerin. Vermutlich. Sie muss oft beruflich nach Bremen, wo sie einen Liebhaber hat. Scheinbar. Zu Hause lebt sie mit einem Mann zusammen, der blind ist oder vorgibt es zu sein …

Auf seinem Bücher-Blog über unterhaltsame Geschichten zu schreiben ist einfach: Man kann ein wenig von der Handlung nacherzählen, vom Setting und von den Figuren berichten, Namen, Fakten und ein oder zwei Sätze zur Lesbarkeit des Erzählstils. Das fällt leicht, wenn auch die Romane Leichtgewichte sind, auf Anhieb durchschaubar.

Laufend wechselnde Erzählperspektiven

Vanderbekes Erzählung ist keine leichte Lektüre. Ja, die Protagonistin heißt Lila oder wird jedenfalls so genannt. Die Handlung ist nicht so leicht greifbar, weil in der Erzählung gar nichts konkret ist. Vanderbeke wechselt die Erzählperspektive laufend: auktorialer Erzähler, personale Erzählerin oder Ich-Erzähler aus der Sicht Lilas. Und Lila scheint nicht daran gelegen, Fakten wiederzugeben, sie spielt nicht nur anderen etwas vor, sondern scheinbar auch sich selber. Und sogar der auktoriale Erzähler hält sich an Lilas Spielregeln und enthüllt nur wenig, das nicht dazu passt. Es wird nicht einmal immer deutlich, welcher der Erzähler gerade am Zug ist.

Inszenierungen für die Liebe

Der Mann, mit dem Lila zusammenlebt, ist blind und doch ist auf wundersame Weise Hausarbeit erledigt, wenn Lila nach Hause kommt. Doch das darf sie nicht hinterfragen, denn seine Blindheit ist Teil ihrer Liebes-Inszenierung. Dazu gehören auch geheimnisvolle Briefe und Blumensträuße, die von ihrem Verehrer stammen. Das glaubt der Mann, jedenfalls gibt er vor, es zu glauben. Und Lila weiß eigentlich auch, dass er nur so tut als ob, darf es aber nicht einmal vor sich selber zugeben… Viele Lügen und Spielchen also, die die Liebe lebendig halten sollen, eine komplizierte Inszenierung, die ständig Aufmerksamkeit und “Um-die-Ecke-denken” verlangt.

Eintauchen in den Sog der Sprache

Das alles hört sich sehr verwirrend an, ist aber einfach genial erzählt. Venderbekes besonderer Stil kommt auch hier wieder gut zur Geltung. Fast atemlos reihen sich Halbsätze aneinander, manchmal über eine halbe Seite, bevor ein Punkt eine Zäsur bringt. Meist ist die Sprache assoziativ wie Gedankengänge, mal springt sie zur nächsten Idee, mal folgt sie Lila bei ihrem Spiel, in ihrem Chaos, beim Blick auf ihre Umgebung oder ihre eigenen Wahrheiten. Auf jeden Fall wirkt Vanderbekes Sprache wie ein Sog, der den Leser mit sich zieht, den Leser aufnimmt und mit sich herumwirbelt, sodass man fast atemlos dem Strudel folgen muss. Purer Genuss!

Birgit Vanderbeke. Fehlende Teile. Erzählung. Berlin: Rotbuch Verlag, 1992.

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