England, Literatur

Kazuo Ishiguro. Was vom Tage übrigblieb (1990)

Butler Stevens unternimmt im Jahr 1956 eine Reise durch England, wenige Tage nur, und auch nur auf den Vorschlag seines Dienstherren, des Amerikaners Mr Farraday, hin, der Stevens seinen Wagen zur Verfügung stellen und das Benzin bezahlen will. Während dieser Reise werden Erinnerungen wach an die goldenen Zeiten in Darlington Hall.

Der Gedanke an Urlaub ist Butler Stevens eigentlich völlig fremd. Er lebt für die Pflichterfüllung, sein Dienst als Butler in Darlington Hall ist sein Lebensinhalt, schon lange hat er sein Dasein perfektioniert: Stevens IST Butler, als Mensch sieht er sich nicht mehr. Auch wenn die guten, alten Zeiten vorbei sind, in denen er Lord Darlington dienen konnte, rühmt sich Stevens seiner modernen Haltung und versucht den Dienst auch für den neuen Besitzer von Darlington Hall zu perfektionieren, den Amerikaner Mr Farraday, auch wenn dieser lange nicht so viel Personal finanzieren kann wie früher Lord Darlington.

Stevens Zweck der Reise

Ein Brief der früheren Haushälterin Miss Kenton, jetzt Mrs Benn, bringt Stevens auf den Gedanken, dass Miss Kenton, wie er sie immer noch nennt, die ideale Ergänzung des Personals wäre. Um mit ihr zu sprechen und ihr die Stelle anzubieten, scheint ihm die Reise eine gute Möglichkeit. Und schließlich ist es ja auch der Wunsch seines Dienstherren, dass er verreist, und somit geradezu Stevens Pflicht …

Reisebericht mit Reminiszenzen

Unterwegs berichtet Stevens getreulich von seiner Reise – wobei der Leser übrigens auch mal direkt angesprochen wird mit „of which you may have heard“ oder „you may well guess“ – und erinnert sich an seine Zusammenarbeit mit Miss Kenton und die guten, alten Zeiten. Dabei berichtet er von den geheimnisvollen Treffen, die Lord Darlington zwischen Politikern und einflussreichen Persönlichkeiten seiner Zeit arrangierte, zuerst fast nebenbei. Viel wichtiger für Stevens ist die Frage, was einen guten Butler ausmacht, nämlich die Würde („dignity“), die für ihn im Wesentlichen dadurch bewiesen wird, dass ein Butler unter keinen Umständen eine persönliche Regung zeigt. Eine Kunst, die Stevens so vollendet beherrscht, dass er sich selber seiner Gefühle gar nicht mehr bewusst wird.

Selbstverleugnung und Loyalität

Butler Stevens berichtet also in formvollendetem British English von seiner Reise, vom Ziel seiner Reise (Miss Kenton) und von ihrer gemeinsamen Zeit in Darlington Hall, wobei ihm selber gar nicht bewusst zu werden scheint, wie bedeutsam die (natürlich rein dienstlichen) Treffen mit Miss Kenton damals waren und wie wertvoll ihm die Erinnerung heute noch ist. Es sinniert über die Aufgaben eines Butlers, wobei für ihn das Putzen des Silbers die hohe Schule darstellt, der er einige Überlegungen widmet. Auch die unverbrüchliche Loyalität zum Dienstherrn gehört sich für einen guten Butler, und so verteidigt Stevens auch Lord Darlington immer noch, der scheinbar der Sache der Nazis in England gute Dienste erwiesen hatte, wie nach dem Krieg behauptet wurde.

Stille Verzweiflung

Was vom Tage übrigblieb ist im Wesentlichen ein langer Monolog, nur wenige Dialoge lockern diesen auf. Stevens bleibt seiner Rolle durchweg treu und doch vermittelt Ishiguro dem Leser auf diese Art die stille Verzweiflung des Mannes, der sich nie erlaubte zu lieben, eine Meinung zu haben, ein eigenes Leben zu leben. Am letzten Abend seiner Reise scheint ihm dieses Versäumnis schmerzlich bewusst zu werden. Doch was bleibt ihm noch?

Der Roman hat 1989 den Man Booker Prize for Fiction gewonnen. Kazuo Ishiguro, Jahrgang 1954, Engländer mit japanischen Wurzeln, erhielt 2017 den Nobelpreis für Literatur.

Kazuo Ishiguro. Was vom Tage übrigblieb. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1990. | The Remains of the Day. London, 1989. Übersetzung Hermann Stiehl.

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