Deutschland, Literatur

Christiane Neudecker. Sommernovelle (2015)

Zwei fünfzehnjährige Mädchen verbringen zum ersten mal zwei Wochen fern von zu Hause, ohne Eltern. In der Vogelstation auf der Nordseeinsel wollen sie helfen, die Welt zu retten. Eine Spur von jugendlichem Größenwahn führt sie auf die Insel, der Wunsch auch nach Freiheit, nach Ablenkung von den existenziellen Sorgen daheim. Es ist der Sommer vor der Wende.

Es gibt diese Sommer nur in der Kindheit oder in der Jugend. Oder im Übergang vom einen zum anderen. Ich habe nie wieder so etwas erlebt. Dabei war jener Sommer eher ein Frühling. Und er dauerte nur zwei Wochen lang.” – Mit diesen Worten beginnt Christiane Neudecker den Roman (oder die Novelle?) und legt sich selber die Messlatte hoch an. Die Erwartungen des Lesers werden geweckt, etwas Besonderes muss kommen.

Meisterhafte leise Töne

Was zunächst folgt, ist allerdings eine Beschreibung der flirrenden Hitze am Meer. Einer meisterhaften Beschreibung, die einen (auch im tiefsten Winter) die Hitze spüren lässt. Ja, genau so war es in den Sommern der Kindheit am Strand. In einem ähnlich ruhigen Ton erzählt Neudecker weiter, dem Leser wird klar: Sensationelle Action ist in diesem Roman nicht zu erwarten, das Besondere liegt in den leisen Tönen. Und diese fesseln.

Lottes erste Liebe

Lotte und die zunächst namenlose Ich-Erzählerin (später wird ihr Spitzname “Panda” verraten) kommen mit dem Zug auf die Insel, voller Ideale und in der Hoffnung, einen wichtigen Beitrag für den Naturschutz zu leisten. Doch zunächst einmal lernen sie die merkwürdigen Mitbewohner der Station kennen. Der ältere Hiller bringt Panda bei “den Himmel zu lesen”, was konkret bedeutet, die Anzahl der Vögel in einem Schwarm intuitiv einzuschätzen. Lotte verliebt sich in den jungen Julian. Ihre erste Liebe, die unweigerlich mit einer Enttäuschung endet – erzählt nur durch die Beobachtungen Pandas, Lotte kommt nicht zu Wort, vertraut sich auch nicht der Freundin an.

Sind Zahlen Naturschutz?

Als der Professor kommt, Chef der Vogelstation, hat das ruhige Herumgammeln im gemeinsamen Idealismus ein Ende: die Vögel müssen gezählt werden. Schnell hinterfragt Panda den Sinn der Zählerei, was ändern die Zahlen? Panda vermutet “gar nichts” und beschließt, mit Lotte heimlich abzureisen.

In einem Nachklapp erzählt die Autorin noch, wie Panda 25 Jahre später gemeinsam mit ihrer Mutter die Insel besucht. Spannende Ereignisse? Neue Erkenntnisse? Nicht wirklich.

Beobachtungen einer Fünfzehnjährigen

Aufregendes passiert also eigentlich nicht in dieser Sommernovelle. Lottes erste und unglückliche Liebe bleibt genauso verschwommen im flirrenden Sommerlicht wie alle Ereignisse des kurzen Sommers. Panda und Lotte flüchten aus der Vogelstation, ein wenig desillusioniert, ein klein wenig erwachsener. Erzählt wird völlig aus der Perspektive von Ich-Erzählerin Panda, ihre Beobachtungen häufig flüchtig, für sie selber rätselhaft. Erklärt wird nicht, Charaktere und Ereignisse haben nur so viel Tiefe, wie die Fünfzehnjährige ihnen zu geben vermag.

Sommerliche Hitze in Worte gefasst

Sommernovelle ist ein sehr ruhiges Buch, völlig versunken in der Hitze, die alle Konturen verschwimmen lässt. Manchmal flüchtig, konkret nur, wenn es um die Vögel geht. Absolut unaufgeregt erzählt Neudecker von diesen Tagen am Meer, in denen eigentlich nicht viel passiert. Und trotzdem schafft sie es, den Leser mit ihren Beschreibungen und Bilder zu fesseln, schafft es, den Leser die Hitze spüren zu lassen und die Erinnerungen an eigene Kinder- bzw. Jugendtage am Meer zu wecken. Ein stilles, ein wunderbares Buch!

Christiane Neudecker ist Jahrgang 1974 und studierte Theaterregie. Sie lebt als freie Schriftstellerin, Librettistin und Regisseurin in Berlin und hat bereits zahlreiche Literaturpreise erhalten.

Christiane Neudecker. Sommernovelle. München: Luchterhand, 2015.

Vielen Dank für das Rezensionsexemplar!

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