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Denis Scheck. Schecks Kanon (2019)

Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur von „Krieg und Frieden“ bis „Tim und Struppi“ – Diese „Inhaltsangabe“ auf dem Titel von Schecks Kanon fasst gut zusammen, worum es im Buch geht: Um eine höchst subjektive und auch ungewöhnliche Auswahl eines Kanons, also der Bücher, die man als gebildeter Mensch gelesen haben sollte. Und so ungewöhnlich die Auswahl zum Teil ist, so unterhaltsam präsentiert sie der Autor, mit vielen klugen Gedanken, aber ohne erhobenen Zeigefinger.

Wie viele neue Bücher erscheinen allein in Deutschland pro Jahr? 100.000? Dazu kommen natürlich noch jede Menge älterer Bücher, Klassiker, die in der Schule oder an der Uni behandelt werden, Unterhaltsames, das meist schon vergessen ist, und natürlich auch Bücher, die zu Recht längst in Vergessenheit geraten sind. Jede Menge Lesestoff also, bestimmt ist auch für jeden Geschmack etwas dabei. Und für Literaturmenschen sind auch wichtige Bücher dabei, weil sie Einfluss genommen haben, auf spätere Autoren, vielleicht auf das Lebensgefühl ganzer Generationen, vielleicht literarische Strömungen oder Genres begründet haben.

Die Qual der Wahl

Aber wie findet man als Leser „gute“ Bücher? Und was ist eigentlich ein „gutes“ Buch? Die zweite Frage ist nicht einfach zu beantworten, es gibt zu viele unterschiedliche Kriterien. Als Leser findet man ein Buch wohl meistens dann gut, wenn es einen anspricht, einen fesselt, vielleicht zum Nachdenken anregt oder einen ein fremdes Leben miterleben lässt. Zusammengefasst: Jeder Leser hat seine eigenen Ansprüche an ein gutes Buch, häufig völlig unabhängig von Kritikermeinungen. Das heißt aber auch, dass man als Leser angewiesen ist auf Empfehlungen, um aus der Fülle der Neuerscheinungen und älteren Werken das für sich passende Buch zu finden. Deshalb florieren Blogs, treffen sich Büchermenschen auf Instagram oder auf anderen modernen Plattformen. Doch dort geht es meistens um die gut verkauften Neuerscheinungen, nicht umsonst sind die Blogger inzwischen Bestandteil jeder Marketingstrategie der Verlage.

Weltliteratur

Und was ist mit den älteren Büchern? Was mit den Klassikern – und vor allem, was ist mit dem weiten Feld der „Weltliteratur“? Die unterschiedlichen Definitionen der Literaturwissenschaftler jetzt mal außen vor gelassen: Wie kann man sich als Leser in diesem weiten Feld zurechtfinden? Wer bietet Orientierung – außer den literaturwissenschaftlichen Fachbüchern, deren Kriterien für den „normalen“ Leser nicht wirklich überzeugend sind?

Subjektiv

Ja, richtig, hier kommt Schecks Kanon ins Spiel. Auch wenn Denis Scheck Germanistik studiert hat und als Literaturkritiker vermutlich ein paar wissenschaftliche Kriterien für ein gutes Buch im Hinterkopf hatte, als er dieses Buch schrieb, so muss die Auswahl zwangsläufig subjektiv sein. Und das ist für uns als Leser auch sehr gut so: Denn Scheck hat Werke ausgewählt, bei denen er ins Schwärmen gerät, bei denen man seine Begeisterung aus seinem Text herausliest, zu denen er mehr sagen kann, als dass das Werk wichtig in der Literaturgeschichte seines Landes ist oder war …

Ein bunter Kanon

Entstanden ist eine wunderbar bunte Mischung, die das Herz jedes echten Literaturliebhabers erfreut. Es geht auf dieser Bücherreise quer durch Länder und Zeiten und Genres. In Schecks Kanon finden sich Astrid Lindgrens Karlsson vom Dach, Tim und Struppi, Harry Potter; es gibt einige Klassiker, die man erwartet wie Krieg und Frieden, Effi Briest, Stolz und Vorurteil; Ovids Metamorphosen, aber auch Krimis von Agatha Christie und Dorothy L. Sayers; Proust, Sappho und Frankenstein, Nietzsche und die Gebrüder Grimm, Kleist, Kafka und Nils Holgerson, Der Report der Magd, Goethe und Tausendundeine Nacht

Das frivole Unternehmen

Dass Scheck in seinem „Vorwort zu einem frivolen Unternehmen“ ausgerechnet mit Stefan Raab anfängt, hätte mir persönlich fast das Weiterlesen vermiest. Dabei beginnt Scheck hier wie er im Buch fortzufahren gedenkt: Er stellt einen Bezug von Literatur zur heutigen, häufig vulgären Alltagsrealität her. Während er in seinem Vorwort einen klugen und durchaus optimistischen Blick auf die Situation des Lesens und des Buches in unserer Gesellschaft wirft, sieht er sein eigenes Buch durchaus kritisch: „Natürlich ist jeder Anspruch als einzelner Literaturkritiker einen Kanon zu formulieren schierer Größenwahn. Aber Größenwahn kann ja mitunter auch ganz lustig sein – nicht umsonst habe ich Astrid Lindgrens größenwahnsinnigen Herrn Karlsson vom Dach an den Anfang des Unternehmens gestellt.“ (S. 18-19)

Horizonterweiterung

Ein bisschen Größenwahn hat hier jedenfalls zu einem Buch geführt, das viele literarische Werke mit amüsanten Zusammenfassungen oder Bezügen zur Gegenwart vorstellt, einem Buch, dem man die Begeisterung für Literatur anmerkt – und dem zu wünschen wäre, dass es viele Leser ansteckt, die bisher noch nicht über ihren eigenen Horizont hinausgeblickt haben. Denn die wirklich guten und wichtigen Bücher findet man nicht unbedingt unter den Neuerscheinungen oder in seinem Instagram-Feed.

Denis Scheck. Schecks Kanon. Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur von „Krieg und Frieden“ bis „Tim und Struppi“. München: Piper Verlag, 2019.

Vielen Dank für das Rezensionsexemplar!

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