Historisch, Spanien

Julia Navarro. Alles, was die Zeit vergisst (2013)

Welch ein Parforceritt durch die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts! Julia Navarro lässt von Stalinismus über spanischen Bürgerkrieg und Drittes Reich bis hin zur DDR diese Geschichte lebendig werden anhand einer sehr politischen Spionagegeschichte – ein Geschichtsbuch in Romanform auf 840 Seiten.

Der junge Madrider Journalist Guillermo schlägt sich wie viele Berufskollegen mehr schlecht als recht durch, und so kommt ihm der Auftrag seiner reichen Tante Marta sehr gelegen, Nachforschungen über das Leben ihrer Großmutter anzustellen. Diese hatte die Familie verlassen, als ihr Sohn, also Martas Vater und Guillermos Großvater, noch ein Säugling war. Danach wollte niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben, und so weiß die Familie nicht, was aus ihr geworden ist. Ein altes Foto scheint die einzige Spur zu sein.

Amelias Cousine Laura

Doch recht schnell findet Guillermo den Namen seiner Urgroßmutter heraus, Amelia Garayoa, und schon der erste Anruf bei einer Madrider Familie gleichen Namens lässt ihn bei Amelias Cousine Laura landen. Sie und ihre Schwester sind schon in ihren Neunzigern, können aber einige Erinnerungen an Amelia beisteuern. Genauso wie das ehemalige Dienstmädchen Amelias, Edurne, die ebenfalls bei den Schwestern lebt. Da ihre Mutter Amelias Amme war, kannten sie sich bereits als Kinder und waren auch später beinahe Freundinnen.

Kindheit in den 1930er-Jahren

Sie berichten also über Amelias Kindheit, ihre erstaunliche Fähigkeit, Fremdsprachen zu lernen und die Reisen, auf die ihr Vater sie bereits früh mitgenommen hatte und die die Familie schon in den 1930er Jahren u.a. nach Berlin führte. Da der Berliner Geschäftspartner des Vaters allerdings Jude ist, wird der dortige Teil des Geschäftes samt Maschinen etc. bald beschlagnahmt. Unter anderem um den drohenden Bankrott des Vaters abzuwenden, heiratet Amelia Santiago, doch scheint auch Liebe im Spiel gewesen zu sein. Sehr schnell bekommen die beiden einen Sohn, Javier, da ist Amelia noch keine 19. Spannender als ihren Sohn findet sie die Politik, besonders die Ideen von Sozialismus und Kommunismus haben es der Tochter aus großbürgerlichem Hause angetan. Sie besucht politische Versammlungen, während sich die Amme um Javier kümmert.

Leidenschaftliche Liebe zur Politik

Über diese Versammlungen lernt sie den Franzosen Pierre kennen, in den sich Amelia leidenschaftlich verliebt. Als er sie darum bittet, entschließt sie sich recht schnell, ihre Familie zu verlassen, um mit Pierre gemeinsam in Paris für den Sozialismus zu kämpfen. Über Barcelona reisen beide nach Paris – und von dort recht schnell weiter nach Buenos Aires, denn Pierre ist eigentlich ein Agent der Sowjetunion und soll jetzt in Südamerika Agenten anwerben. Für ihn ist Amelia dabei vor allem eine sehr nützliche Tarnung. Als sie dahinter kommt, möchte sie ihn verlassen, ohne eigenes Geld von Buenos Aires aus nicht einfach. Als Pierre allerdings nach Moskau gerufen wird, beschließt Amelia, ihn zu begleiten, vor allem weil er eine eindringliche Warnung erhalten hatte, dass dies gefährlich sein wird.

Stalins Moskau

In Moskau wohnen Pierre und Amelia bei einer Schwester von Pierres Mutter, wo sie einen wunderbaren Einblick ist den Alltag unter Stalin erhalten. Und tatsächlich landet Pierre im Gefängnis, wird gefoltert und Amelias Bemühungen, ihn zu befreien, münden doch in seinem Tod. Während Amelia dank ihres perfekten Russisch tatsächlich arbeitet und bei einem Kongress Gäste betreuen muss. Darunter ist auch ein alter Freund Pierres, der amerikanische Journalist Albert James, der Amelia mit nach Paris nimmt.

Spionin in Europas Wirren

Als seine Sekretärin und später seine Lebensgefährtin bleibt sie bei James und begleitet ihn nach Mexiko, um Trotzki zu interviewen, nach Madrid, um über das Ende des Bürgerkriegs und die Zustände unter Franco zu schreiben, nach Berlin, um aus Nazi-Deutschland zu berichten. Hier lernen sie Mitglieder einer kleinen Widerstandsgruppe kennen, der auch ein alter Bekannter aus Buenos Aires angehört: Baron Max von Schumann, ein Arzt und hoher Offizier. Amelia schmuggelt eine Jüdin aus Berlin, hält in den USA Vorträge, wird Spionin für England, lebt als solche in Berlin und Polen, wohin sie Max begleitet. In Warschau hilft sie, Waffen in das Ghetto zu schmuggeln, wofür sie zum ersten Mal selber eingesperrt und gefoltert wird. Doch Max kann sie noch einmal retten. Gemeinsam reisen sie nach Madrid, nach Rom, nach Griechenland, immer muss Amelia jemanden retten, etwas in Erfahrung bringen, für die gerechte Sache kämpfen. In Griechenland beteiligt sie sich an einem Sabotageakt der Griechen, allerdings tötet sie dabei ihren geliebten Max. Gefängnis, Folter, KZ Ravensbrück, woraus sie Max, der als Krüppel überlebt hat, erneut befreit. Schuldbewusst kümmert sich Amelia von da an in Berlin um Max und seinen Sohn Friedrich, bringt sie durch die Nachkriegszeit und die DDR, eine Weile als Spionin für die Amerikaner, dann nur noch gelegentlich als Fluchthelferin….

Spanischer Rahmen mit wenig Handlung

In der Rahmenhandlung ist es immer wieder Guillermo, der den Spuren seiner Urgroßmutter folgt, aber schon bald als Marionette von Laura Garayoa. Dabei muss er Amelia quasi hinterher reisen, denn Laura hat verschiedene Zeitzeugen instruiert, Guillermo immer nur den Teil zu erzählen, bei dem sie selber dabei waren, keine Amelias zahlreicher Stationen darf übersprungen werden. Guillermo muss alle chronologisch abarbeiten, was ihn anfangs etwas nervt, bis er selber neugierig auf die faszinierende Geschichte geworden ist.

Über Amelia berichten also verschiedene Menschen, die sie gekannt haben, wobei jeder Bericht in eine Romanform verpackt ist, die die unterschiedlichen Perspektiven kaum noch erkennen lässt: die Cousine Laura, die Bedienstete Edurne, der Geschichtsprofessor Pedro Soler, der Amelia als kleiner Junge kannte, andere Forscher, Verwandte. Guillermo reist nach Barcelona, Paris, Buenos Aires, London und Rom… und sammelt die Bruchstücke über Amelias Leben in chronologischer Reihenfolge ein. Wobei sein eigenes Leben nur eine winzige Rolle am Rande spielt. Am Ende wartet noch eine Pointe auf Guillermo, über die der spanische Titel mehr verrät als der deutsche…

Roman oder Geschichtsbuch?

Ist Alles, was die Zeit vergisst wirklich ein Roman? Bzw. ist es noch in erster Linie ein Roman? Oder ist es nicht eher eine Darstellung der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts mithilfe einer zentralen, politisch sehr interessierten und aktiven Frauenfigur? Für einen echten Schmöker ist die Perspektive ein wenig zu distanziert – worüber man spätestens bei den Folterungen dankbar ist. Für einen Roman ist auch einfach viel zu viel in dieses Buch hineingestopft, viel zu viele Stationen, zu viele politische Richtungen und Kriege, die Amelia alle viel zu persönlich nahm, zu viel perfekte Schönheit und perfekte Sprachkenntnisse, dabei neben der Liebe zu Pierre und Max und dem Bedauern über ihren verlorenen Sohn zu wenig Gefühl und „privates Leben“. Das lässt Amelia eher wie eine Kunstfigur denn ein Mensch wirken, eine Figur, die dazu dienen sollte, die europäische Geschichte mit einem roten Faden zu verknüpfen.

Intensiver persönlicher Einblick

Als Geschichtsbuch in Romanform ist Julia Navarro hier aber ein bemerkenswertes Buch gelungen. Mithilfe der Figur der Amelia wird die große Geschichte persönlich, kann sich der Leser vorstellen, wie es einer russischen Familie unter Stalin ging, wie die Polen das Warschauer Ghetto wahrnahmen, wie die Madrider den Bürgerkrieg erlebt haben – wobei Spanien für die spanische Journalistin Navarro in diesem Buch nicht so interessant war wie die deutsche Geschichte bis zum Fall der Mauer 1989. Wer sich für Geschichte interessiert, bekommt in diesem Buch auf jeden Fall etwas geboten, auch wenn ich natürlich nicht beurteilen kann, inwieweit die Details korrekt recherchiert und dargestellt sind oder ob vieles reine Fiktion ist. Mit Sicherheit aber ermöglicht Julia Navarro dem Leser einen anderen, teilweise beklemmend intensiven Blick auf die bekannten historischen Fakten vor allem der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert.

Julia Navarro wurde 1953 in Madrid geboren und arbeitete als politische Journalistin für Zeitschriften, Radio- und Fernsehsender. Sie veröffentlichte zunächst mehrere erfolgreiche Sachbücher, bevor sie sich Thrillern zuwandte, die in Deutschland auf der Spiegel-Liste standen. Mit Alles, was die Zeit vergisst erobert sie sich ein neues Genre – in Spanien scheinbar sehr erfolgreich.

Julia Navarro. Alles, was die Zeit vergisst. München: Limes Verlag, 2013 (E-Book); Blanvalet, 2016 (Taschenbuch). | Dime Quién soy. Barcelona: Plaza y Janés, 2010. Übersetzung K. Schatzhauser.

Vielen Dank für das Rezensionsexemplar!

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