Deutschland, Lieblingsbücher

Dörte Hansen. Altes Land (2015)

Altes Land hat mich schon nach den ersten Sätzen in seinen Bann gezogen. Einer dieser Romane, in denen man jeden einzelnen Satz genießen kann und bei denen man zutiefst bedauert, dass sie irgendwann zu Ende gehen müssen. Lesegenuss in einer klaren Sprache und mit wunderschönen Bildern, intelligent und getragen von einem warmherzigen Humor.

In der Hauptrolle: das alte reetgedeckte Haus, in dem Vera Eckhoff wohnt, seit sie als Flüchtling aus Polen im – Hauptrolle Nummer 2 – Alten Land angekommen ist. Das Haus scheint ein eigenwilliges Wesen zu sein, vor dem Vera Angst, mindestens aber großen Respekt hat. Das Haus bestraft Veränderungen, deshalb lässt Vera jahrzehntelang alles wie es ist.

Landromantik

Im Alten Land dagegen bleibt nichts wie es mal war. Längst sind die meisten der reetgedeckten Häuser bis zur Unkenntlichkeit modernisiert, können die Obstbauern kaum noch rentabel wirtschaften und sind auf Alternativen angewiesen, Fremdenzimmer, Obsterlebnishof, Bio-Erzeugung. Wozu dann noch die Land-Romantiker aus Hamburg kommen, die mit mehr Geld als Sachkunde die alten Häuser wieder auf Vordermann bringen und das, was ihnen am Landleben romantisch erscheint, auf ihre Weise vermarkten wollen.

Kriegsflüchtling

Wie diese Hamburger aufs Land geflüchtet sind, kam auch Vera einst mit ihrer Mutter Hildegard als Flüchtling an. Nur widerwillig hatte Ida Eckhoff sie aufgenommen, und dann doch Vera klammheimlich in ihr Herz geschlossen. Hildegard heiratete Idas Sohn Karl und übernahm die Regentschaft auf dem Hof, bevor sie sich mit einer besseren Partie auf Nimmerwiedersehen aus dem Staub machte. Vera blieb allein mit Karl auf dem Hof zurück und kümmerte sich um den Kriegsheimkehrer, den seitdem seine Dämonen umtrieben.

Stadtflüchtling

Veras Nichte Anne kommt auch als Flüchtling ins Alte Land. Sie flüchtet nicht nur aus der Stadt, sondern aus ihrem alten Leben, als sie ihre Stelle als Musiklehrerin verliert und der Vater ihres Sohnes sie betrügt. Nicht Annes erste Flucht, die begabte Pianistin flüchtete vor dem Klavier, als ihr jüngerer Bruder sich als Wunderkind entpuppte. Flüchtete erst zu einem anderen Instrument, dann in eine Schreinerlehre und immer wieder vor der Mutter, deren Ansprüchen sie nicht gerecht werden konnte.

Familie

Vera und Anne sind sich sehr ähnlich und verstehen sich, meist sogar ohne Worte. Vera kümmert sich um Annes Sohn Leon, wenn Anne mal ausschlafen muss, Anne kümmert sich um das Haus, damit Vera nicht mehr Wache halten muss. “Sie hatte jedes Stück geerbt, aber sie lebte mir den Dingen, als gehörten sie ihr nicht. Sie hütete das Haus, mehr nicht, sie schien es kaum zu wagen, die alten Blumentöpfe zu verrücken …” (S. 165) Die Einsiedlerin Vera findet in ihrer Nichte und deren kleinem Sohn eine späte Familie – fernab von landläufigen Familienidyllen.

Sprache

Hansens Charaktere sind fantastisch, knurrige, originelle Typen oder geleckte Stadtaffen, mit knappen Worten gut charakterisiert.

Was mich am meisten fasziniert, ist ihre originelle Sprache, sind ihre Bilder und Vergleiche. Mein liebstes Beispiel, das ich mir (was ich nur selten mache) markiert habe, stammt aus der Trennungsphase von Anne und ihrem Freund:
“Die letzten langen Tage miteinander hatten sich angefühlt wie die Proben für ein neues Theaterstück. Das ausgeliebte Paar in seiner alten Wohnung. Die Rollen waren verteilt, aber die Texte saßen noch nicht. Unbeholfen spielten sie den alten Klassiker vom Lieben und Verlassen. Der Betrüger, die Betrogene, das Kofferpacken, das Bilderabnehmen, das Schreien, das Flüstern, das Weinen, die roten Augen, die blassen Gesichter.
Ein Drama aus Fertigteilen, dachte Anne, größer haben wir es nicht.” (S. 77)

Dörte Hansen ist Jahrgang 1964, promovierte Linguistin und hat lange Jahre als Journalistin gearbeitet. Altes Land ist ihr erster Roman, der literarischen Anspruch perfekt mit wunderbarer Unterhaltung verbindet.

Dörte Hansen. Altes Land. München: Knaus, 2015.

Vielen Dank für das Rezensionsexemplar!

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