Deutschland

Dörte Hansen. Mittagsstunde (2018)

Die Mittagsstunde war immer heilig, in dem Dorf in der Geest, von dem dieses Buch erzählt. Doch natürlich gilt das längst nicht mehr, mit allen Veränderungen im Dorfleben und im Gefüge der Dorfbewohner ist auch die heilige Ruhe der Mittagsstunde untergegangen.

Nach vielen Jahren in Kiel, als Dozent an der Uni, kehrt Dr. Ingwer Feddersen in sein Heimatdorf Brinkebüll zurück, ein Jahr hat er sich freigenommen, um einerseits sein Leben in Kiel zu überdenken und sich andererseits um seine Großeltern zu kümmern. Ella Feddersen ist dement – oder „verliert den Verstand“ -, Sönke Feddersen kümmert sich immer noch so gut es geht – es geht allerdings kaum noch – um seinen Dorfkrug, der Jahrzehnte lang das Zentrum des dörflichen Lebens darstellte. Hierher kamen sie alle, zum regelmäßigen Stammtisch, zum Feiern, zum Diskutieren über die große Flurbereinigung, zum Tuscheln und Tratschen.

Wurzeln und Schuld

Als einer der wenigen, die das Dorf verlassen haben, hat Ingwer auch seinen Großvater enttäuscht und die Regeln des Dorfes ignoriert, nach der die Söhne und Enkel die Höfe oder Handwerke ihrer Vorfahren weiterführten. Ein bisschen will der Archäologe jetzt an seinem Großvater gutmachen, vielleicht ist es auch eine Suche nach den eigenen Wurzeln, eine Analyse der eigenen Wurzeln, die mit dem Leben im Dorf ja eng verbunden sind.

Niedergang des Dorflebens

Und so erzählt der Roman vom Leben im Dorf früher und heute, vom Niedergang des Dorfes, vom Untergang von Betrieben und von Familien, von Todesfällen, von diversen Verrückten – zu denen auch Ingwers Mutter Marret gehörte. Diese Erzählung ist nicht chronologisch, obwohl klar scheint, dass die große Flurbereinigung in den 60er-Jahren den Anfang vom Ende markierte. Von da an waren die Strukturen im Dorf nicht mehr die gewachsenen, sondern künstliche, aufgezwungene, von da an ging es immer mehr um Produktivität und Effektivität, kleinere Betriebe gingen langsam ein, große wurden immer größer, immer moderner.

Menschen

Doch vor allem erzählt der Roman von den Menschen im Dorf, nicht nur von der Familie Feddersen. Besondere Charaktere stehen immer wieder für kurze Zeit im Zentrum: Bäckerstochter Gönke Boysen mit ihrer unbändigen Wut, der die Familie hilflos gegenüberstand und die mit 18 nach Berlin verschwand; Heiko Ketelsen, der als jüngster Sohn immer die Prügel des Vaters kassierte, keine Ausbildung durchhielt, aber inzwischen in einer Welt aus Western und Line Dance seine Nische im Dorf gefunden hat. Dorflehrer Christian Steensen, der mehr als 30 Jahre alle Dorfkinder unterrichtete, der sich standhaft modernen Methoden verweigerte, der einzig in Ingwer die Liebe zur Archäologie wecken konnte, der sich meistens abseits hielt und doch tief verstrickt war in das Dorfgeschehen. Und natürlich Sönke und Ella und ein paar andere mehr …

Keine Idylle

Auch wenn Mittagsstunde vom Untergang eines Dorfes erzählt, widersteht Dörte Hansen der Versuchung, die Vergangenheit zu idealisieren. Nein, idyllisch war das Leben hier nie, die Probleme waren nur andere. Früher war man eher unter sich mit dem Dorfkrug als Mittelpunkt, heute gibt es mehr zugezogene Pendler als „echte“ Dorfbewohner. Die wenigen Höfe sind größer und besser in Schuss. Ist das alles nun besser oder schlechter als früher? Es ist vor allem anders, eine andere Welt.

Liebevolles Verständnis

Dörte Hansen erzählt ohne Pathos vom Ende der dörflichen Traditionen, aus der Sicht der verschiedenen Dorfbewohner beschreibt sie einzelne Aspekte detailliert, geeignet zum Nachfühlen, zum Miterleben. Verallgemeinerungen sind selten. Dabei neigen die Menschen in Brinkebüll nicht zur Dramatik, in den Dialogen, die hauptsächlich auf Platt wiedergegeben werden, kommt immer wieder der Humor (der Dorfbewohner und damit der Autorin) zum Vorschein. Die Beschreibungen von Menschen und Dorf gelingen immer liebe- und verständnisvoll, was besonders auffällt, wo es um die Demenz von Ella oder die zunehmende Gebrechlichkeit von Sönke geht. Auch hier detailliert, aber niemals peinlich oder plump. Bloßgestellt wird niemand.

Meisterhaft

Die Pflege der Großeltern im Laufe des Sabaticals von Ingwer Feddersen gibt dem Roman einen kleinen Handlungsrahmen, aber er erzählt so unglaublich viel mehr. Und obwohl Dörte Hansen von Person zu Person und in der Zeit hin- und herspringt, wirkt doch alles wie aus einem Guss. Eine große Geschichte vom Untergang der alten dörflichen Lebenswelten, meisterhaft erzählt.

Dörte Hansen. Mittagsstunde. München: Penguin, 2018.

Vielen Dank für das Rezensionsexemplar!

Und was meinst du dazu?