USA

Donna Tartt. The Goldfinch (2013)

Als Theo Decker 13 Jahre alt ist, wird seine Welt zerstört: Seine Mutter stirbt bei einer Bombenexplosion im Museum, er selber überlebt wie durch ein Wunder völlig unverletzt. Ohne Hilfe von Rettungskräften sucht er sich einen Ausgang aus den Trümmern und rettet dabei nicht nur sich selber, sondern auch das Lieblingsgemälde seiner Mutter: „The Goldfinch“.

Theo geht nach Hause und wartet dort auf seine Mutter, natürlich vergeblich. Da der Vater, ein Alkoholiker, die Familie bereits vor einiger Zeit verlassen hat, schaltet sich das Jugendamt ein. Fürs Erste kann Theo zur wohlhabenden Familie seines Freundes Andy ziehen, die Barbours nehmen ihn zwar auf, aber Herzlichkeit und Mitgefühl zeigen sie nicht. Und sie bemühen sich auch nicht Theo bei sich zu behalten, als sein leiblicher Vater kommt und ihn nach Las Vegas mitnehmen möchte.

Boris und die Wüste

Eine Wahl hat Theo also nicht, doch hier „in der Wüste“ fühlt er sich noch verlassener und entwurzelter als zuvor. Das Verhältnis zu seinem Vater war scheinbar nie gut und auch jetzt fehlt jede Verbindung. Die Alkoholabhängigkeit des Vaters scheint durch Spielsucht und Tablettenmissbrauch ersetzt. Erst die Freundschaft mit Boris gibt Theo ein Gefühl der Zugehörigkeit, aber sie führt auch in die Welt von Drogen, Gewalt und Kleinkriminalität. Das Gemälde konnte Theo mitnehmen, gut verpackt hat er es vor seinem Vater und dessen neuer Frau Xandra versteckt.

Zurück nach New York

Nach dem Unfalltod des Vaters fürchtet Theo, dass das Jugendamt erneut über sein Leben bestimmen will. Hals über Kopf flüchtet er nach New York, wo er immer noch sein Zuhause sieht. Er findet Unterschlupf bei Hobie, dem Lebensgefährten und Geschäftspartner des Mannes, mit dem Theo nach der Explosion im Museum entscheidende Momente verbracht hat, und dessen Nichte Pippa. Auch sie hat die Explosion überlebt, allerdings mit einigen Verletzungen. Bereits im Museum hatte sie Theos Aufmerksamkeit geweckt, er entwickelt eine echte Liebe zu ihr, für die Autorin Donna Tartt dem Ich-Erzähler Theo wunderschöne Worte in den Mund legt.

Berufswahl

Auf dem College kommt Theo nicht besonders gut zurecht, an mangelnder Intelligenz scheint es allerdings nicht zu liegen. Immer noch schleppt er das Trauma des Verlustes seiner Mutter, seines einzigen Halts mit sich herum. Hilfe sucht er vor allem bei Drogen, was natürlich nicht funktioniert, sondern seine psychischen Probleme vergrößert. Am wohlsten fühlt Theo sich bei Hobie und in seinem Antiquitätenhandel, wo er bald den Verkauf übernimmt, während der väterliche Freund sich um die handwerkliche Seite kümmert. Die Geldprobleme des Geschäftes löst Theo kreativ, indem er etliche der Antiquitäten „aufwertet“ und teuer verkauft. Das Gemälde hat Theo derweil in einem speziellen Lager sicher versteckt. Auch wenn er weiß, dass der Besitz illegal ist, kann er den Gedanken nicht ertragen, sich von dem Bild zu trennen, denn er sieht es als letzte Verbindung zu seiner Mutter.

Wiedersehen und Verluste

In New York begegnet Theo nach Jahren ohne Kontakt der älteste Sohn der Barbours wieder. Nur zögerlich besucht Theo die Familie, die inzwischen vom Schicksal ebenfalls hart gebeutelt wurde. Doch jetzt scheint Theo willkommener als früher, eine enge Bindung zur Familie entsteht.Gleichzeitig wird Theo unter Druck gesetzt: Seine Betrügereien wurden entdeckt, mit dem Gemälde soll er sich das Schweigen des Erpressers erkaufen. Das kommt für ihn natürlich nicht infrage. Richtig dramatisch wird es für Theo, als Boris wieder in seinem Leben auftaucht. Der hat seine Karriere als Junkie und Krimineller noch konsequenter weiter verfolgt als Theo und zieht diesen mit einem überraschenden Geständnis mitten hinein in seine Machenschaften.

Ist das Literatur?

The Goldfinch ist 2013 als dritter Roman der Amerikanerin Donna Tartt (Jahrgang 1963) erschienen, 1992 erschien The Secret History, 2002 dann The Little Friend. Während der erste Roman für eine literarische Sensation sorgte, wurde Tartts zweiter Roman eher als enttäuschend angesehen. The Goldfinch gewann im Jahr nach seinem Erscheinen den Pulitzer-Preis für Belletristik, trotzdem sind nicht alle Kritiken positiv. Es gibt auch Stimmen, die dem Roman seinen Status als literarisches Werk absprechen .

Persönlich

Für mich ist The Goldfinch ein Meisterwerk – überwiegend. Der Anfang des Romans hat mich absolut begeistert, der Detailreichtum der Erzählweise, die Explosion, der Tod des bis dahin unbekannten alten Mannes, der lange mühsame Weg Theos aus dem teilweise eingestürzten Gebäude … das ist so genial erzählt, dass sich der Leser tatsächlich im Körper und im Geist von Theo wiederfindet, mit seinen Augen sieht und seine Ängste erlebt. Auch bei der Aufarbeitung des schockierenden Erlebnisses bin ich Theo noch gefolgt, doch sämtliche Details seines Drogenkonsums in Las Vegas fand ich schon nicht mehr so interessant. Vermutlich hervorragend erzählt, aber die Handlung schien nicht wirklich voran zu kommen. Theos College-Zeit wurde dagegen fast kurz abgehandelt, die Begegnungen mit den Barbours standen eher im Mittelpunkt, meiner Ansicht nach zu Recht. Doch erst gegen Ende nahm die Geschichte dann wieder etwas Fahrt auf, entwickelte sich überraschend in Richtung Krimi – um dann irgendwie auszulaufen… viele Details aus vielen Tagen fast untätigen Wartens und Bangens Theos in einem Amsterdamer Hotel. Details, die für den Leser die Tage verschwimmen lassen, die keine Struktur mehr bieten, deshalb willkürlich scheinen. Eine Detailverliebtheit, die den Leser an diesem Punkt, nach schon rund 800 eng bedruckten Seiten, an den Rand seiner Geduld bringt. 864 Seiten hat meine Taschenbuch-Ausgabe – aber nicht jede Seite davon wäre nötig gewesen. Der Roman hätte meiner Ansicht nach tatsächlich noch gewonnen, wenn er an einigen Stellen etwas straffer erzählt worden wäre.

Donna Tartt. The Goldfinch. Boston: Little, Brown and Company, 2013. | dt.: Der Distelfink. München: Goldmann, 2014.

Pulitzer-Preis für Belletristik 2014.

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