Literatur, USA

Joyce Hinnefeld. Die Luft, die uns trägt (2011)

In diesem Roman geht es um eine Handvoll Menschen – und um Vögel. Immer wieder und ausführlich um Vögel, ihren Lebensraum und seine Zerstörung. Die Welt der Vögel ist zentral im Leben der Hauptfigur Addie. Eine Hauptfigur, die bereits am Anfang des Romans stirbt und doch den größten Teil des Buches bestimmt.

Im Frühjahr 2002 treffen sich Addies Mann Tom, ihre Tochter Scarlet und Addies enge Freundinnen Cora und Lou an Addies Sterbebett. Sie hat Krebs und eine Behandlung bewusst abgelehnt. Scarlet ist diejenige, aus deren Sicht große Teile der Geschichte rückblickend erzählt sind, aber vieles geht auch weit über Scarlets Wissen hinaus.

Künstlerin und Mutter

Im Mittelpunkt steht Addie, ihre Liebe zum Ornithologen Tom, aber noch mehr ihre Liebe zu Vögeln und zu ihrer Kunst. Addie beginnt mit Zeichnungen von Vögeln, illustriert mit ihnen ein Buch ihres Mannes, auch wenn ihren Werken ein größerer künstlerischer Wert begemessen wird. Später widmet sie sich wütend und engagiert dem Naturschutz, denn sie sieht den Lebensraum ihrer geliebten Vögel bedroht. Mann und Kind scheinen darüber gelegentlich in Vergessenheit zu geraten.

Die Tochter und die Vögel

Auch das Leben von Addies Tochter Scarlet wird im Roman erzählt, aber weit weniger ausführlich oder intensiv. In Addies Leben dagegen taucht der Leser ein, er lernt eine bemerkenswerte Frau und Künstlerin kennen – und zwar in allen Details, mit allen Beweggründen und Abgründen. Und er lernt, wenn er sich darauf einlässt, sehr viel über die Vogelwelt in Addies Umgebung.

“Große” Literatur

Dieser Roman ist ganz sicher große Literatur. Eine bemerkenswerte Geschichte, weil Addies Leben so intensiv ist, weil man mit Scarlet sympathisiert, weil jede Handlung, jeder Charakterzug absolut verlässlich begründet wird. Und nicht nur die Ausflüge in die Ornithologie oder die Biologie allgemein weisen über das Einzelschicksal hinaus. Geschrieben in einer schönen Sprache, die auch in der Übersetzung noch zur Geltung kommt. Tiefgründig und tiefsinnig.

Zu viel des Guten

Obwohl ich den Roman und seine Autorin bewundere, muss ich zugeben, dass ich bisweilen ein wenig Mühe hatte. Gelegentlich waren mir die Ausflüge in die Welt der Vögel etwas zu ausführlich, zu detailreich, zu wissenschaftlich. Der Stil der Autorin hat den kleinen Nachteil, dass sie nur wenige Dialoge einfließen lässt, was zu einer recht großen Distanz zu den Figuren führt. Und gegen Ende ging mir die Allwissenheit des Erzählers sogar auf die Nerven: Er weiß alles, durchschaut alles, kein noch so kleiner Gedanke bleibt vor ihm verborgen. Mir war das dann doch zu viel Analyse, das Sezieren eines Menschenlebens, eine etwas zu sorgfältige Konstruktion.
Vermisst habe ich ein wenig Leichtigkeit gelegentlich, ein wenig Zufall und Gefühle, die sich nicht rational erklären lassen. Wer sich um ein so umfassendes Bild eines Menschen bemüht, sollte diese Zutaten des “echten Lebens” nicht ganz außen vor lassen.

Joyce Hinnefeld. Die Luft, die uns trägt. München: btb, 2011. | In Hovering Flight. Colorado, 2008.

Und was meinst du dazu?