Deutschland

Julia Franck. Rücken an Rücken (2011)

In ihrem fünften Roman hat Julia Franck noch einmal Teile ihrer Familiengeschichte zum Thema gemacht. Auf der Grundlage von Gedichten ihres Onkels erzählt sie aus der Kindheit der Geschwister Ella und Thomas in der DDR der 50er Jahre, bis hin zum Selbstmord Thomas als 18-Jähriger.

Geprägt ist diese Geschichter zweier Heranwachsender von der emotionalen Kälte der Mutter. Käthe ist Bildhauerin, scheinbar recht erfolgreich, und außerdem politisch sehr engagiert. Ihre Kinder Ella und Thomas sind ihr dabei eher im Weg, allenfalls taugen sie als kostenlose Dienstboten.

Vernachlässigt

Die ersten Szenen des Romans sind symptomatisch: Käthe hat die 11-jährige Ella und den 10-jährigen Thomas zwei Wochen lang alleine zu Hause gelassen, weil sie beruflich unterwegs war. Die beiden Kinder freuen sich auf die Rückkehr der Mutter, putzen tagelang exzessiv das Haus, den Garten, waschen und kochen, um der Mutter eine Freude zu machen. Doch Käthe bemerkt die Bemühungen gar nicht, bemerkt kaum die Kinder, kritisiert noch die kalte Suppe, obwohl der Grund dafür ihr Telefonat ist. Ella und Thomas beschließen daraufhin abzuhauen, doch nicht mal ihr Verschwinden wird von der Mutter bemerkt, bis sie nach drei Tagen wieder auftauchen.

Ignoriert und gedemütigt

In dieser Art wachsen die Geschwister auf, in extremer Kälte, innerer wie äußerer, explizit benannter und implizierter durch viele Bilder und Situationen. Die jüngeren Geschwister, zwei namenlose Zwillingsmädchen, hat Käthe gleich ins Heim gegeben. Nur selten sind sie zu Besuch und werden auch dann ignoriert. Ella und Thomas geht es nicht besser, wenn Käthe ihre Existenz überhaupt zur Kenntnis nimmt, dann nur, wenn eines ihrer Kinder ihr nützlich sein kann. Die Kinder sorgen für den Haushalt, später muss Thomas ihr stundenlang Modell stehen. Demütigungen und Kränkungen sind an der Tagesordnung.

DDR = Mutter = kalt?

Käthes politisches Engagement in der noch jungen DDR, die sie als alte Kommunistin aus tiefer Überzeugung unterstützt, ist neben ihrem Beruf als Künstlerin wichtiger als ihre Kinder. Die DDR, so muss es den Kindern scheinen, nimmt ihnen ihre Mutter weg. Als Teenager stellt vor allem Thomas fest, dass dieser Staat ihm auch jede Freiheit nimmt. Selbst wenn ihm eine Flucht von der Mutter gelänge, der Bau der Mauer verhindert entgültig die Flucht aus einer Welt, in der von allen Seiten mit extremster Verachtung für sein Selbst über ihn bestimmt wird. Der Suizid ist sein einziger Ausweg.

Anwachsen gegen die Kälte

Zu der durchgängigen Kälte in Rücken an Rücken gesellt Franck noch viele andere Gräuel an seelischer und körperlicher Grausamkeit, vom Modell-Stehen in eisiger Kälte über Schikanen im Steinbruch bis zum sexuellen Missbrauch Ellas von Stiefvater und Untermieter, Magersucht und psychischer Krankheit. Anfangs können sich die Geschwister – Rücken an Rücken eben – gegenseitig eine Stütze sein, doch ihre Sichtweisen und Reaktionen weichen immer mehr voneinander ab je älter sie werden.

Familien- und Gesellschaftsphänomen

Positives oder Schönes sucht man in dieser Geschichte vergeblich. Einzig die Liebe zu Marie, die der 18-Jährige erleben darf, könnte etwas Gutes in sein Leben bringen – aber nicht in dieser grausamen Welt: Marie ist 26, verheiratet und hat eine kleine Tochter. Ihr Ehemann schlägt sie und verkauft sie an seine Freunde. Ihre Welt ist ähnlich kalt und grausam wie Thomas’. Als Krankenschwester kommt sie an Morphium, ihr Mittel zum gemeinsamen Abgang aus der Kälte und Grausamkeit.

Über-eindringliche Geschichte

Julia Franck erzählt mit Rücken an Rücken auf jeden Fall eine eindringliche Geschichte, die dem Leser nahe geht. So viel extreme Kälte, Verachtung, Demütigung, Grausamkeit … aber genau das ist es auch, was dem Roman gleichzeitig ein wenig seine Kraft nimmt: die massive Ansammlung von Kälte, von kalten Gefühlen, eisiger Kälte von außen, von Begriffen, Motiven und entsprechenden Bildern. Das alles ist ein wenig zu viel, zu pathetisch, zu einseitig, zu sehr künstlich inszeniert.

Julia Franck. Rücken an Rücken. Frankfurt: S. Fischer Verlag, 2011.

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