Belletristik, Deutschland

Vicki Baum. Menschen im Hotel (1929)

Das Berlin der Goldenen Zwanziger stellte Vicki Baum in ihrem 1929 erstmals erschienenen Roman Menschen im Hotel dar – Menschen, die leiden: an den Folgen des Ersten Weltkriegs, am Alter, an Armut, an der Gesellschaft.

Einige Tage in einem noblen Berliner Hotel. Hier steigen vor allem die Reichen ab, aber eben nicht nur. Die alternde Ballettdiva Grusinskaja tyrannisiert weiterhin ihre Mitmenschen, sie leidet massiv darunter, dass der Erfolg inzwischen ausbleibt und ihr das Tanzen und die Leichtigkeit auf der Bühne immer schwerer fallen. Baron von Gaigern, ein junger und gut aussehender Mann, hat gar kein Geld, um seine Hotelrechnung zu bezahlen. Dazu braucht er die berühmten Perlen der Grusinskaja, die er stehlen möchte.

Das richtige Leben

Hilfsbuchhalter Kringelein mietet sich ebenfalls im Hotel ein. Er hat nicht mehr lange zu leben und deshalb all sein Geld zusammengekratzt, um einmal „richtig“ zu leben. Wie genau das geht, weiß er nicht, doch er bekommt Hilfe. Erst von Dr. Otternschlag, ein entstellter und morphiumsüchtiger Dauergast in einem der billigsten Zimmer des Hotels. Hier pflegt er seine Depression und seine Einsamkeit, nie gibt es eine Nachricht für ihn, trotzdem fragt er regelmäßig nach. Otternschlag und Kringelein besuchen eine Vorstellung der Grusinskaja, aber das ist es nicht, was sich der Totkranke unter dem richtigen Leben vorgestellt hat. Der Tag mit von Gaigern schafft es da eher, Kringelein anzusprechen: mit dem Auto rasen, ein Flug über der Stadt, ein Boxkampf und ein Besuch in einem Kasino. Bilder aus der Berliner Gesellschaft der Zwanziger Jahre.

Moralische Werte

Kringeleins Chef, Generaldirektor Preysing steigt ebenfalls im Hotel ab. Er muss einen wichtigen Vertrag unter Dach und Fach bringen, sonst sieht es für seine Firma nicht gut aus. Dabei greift er zum ersten Mal zu einer echten Lüge – und das reißt gleich diverse moralische Standards ein. Denn das „Flämmchen“, Fräulein Flamm Zwo, hat es ihm angetan und er engagiert sie als Begleitung für eine Reise nach England. Mit allen Extras.

Seelisches Leid

Vicki Baum bearbeitet in ihrem Roman keinen großen Plot, sondern eher viele kleine, die miteinander verwoben sind. Das macht sie aber sehr gekonnt, gewährt Einblicke in die Seelenlandschaften der verschiedenen Protagonisten, die – jede/r auf ihre/seine Weise an den modernen Zeiten leiden. Und gerade wenn man als Leserin denkt, dass alles sich gut, aber eher undramatisch abspielt, ereignet sich doch noch etwas, erreicht die Handlung einen unerwarteten Höhepunkt.

Erfolgreiche Gesellschaftskritik

Vor allem aber ist Vicki Baums Roman ein hervorragendes Zeugnis seiner Zeit. Die Gesellschaftskritik ist unübersehbar, der einzelne Mensch leidet unter den neuen Gegebenheiten und Vergnügungen, wird einsam und vergisst seine moralischen Werte. Der Roman wurde schon früh auch fürs Theater adaptiert (1930 von der Autorin selber) und verfilmt, es folgten zahlreiche weitere Versionen auch als Hörspiele.

Vicki Baum wurde 1888 in Wien geboren und wurde zunächst Harfenistin und spielte in mehreren deutschen Orchestern. Erst 1914 begann sie auch zu schreiben und arbeitete von 1926 bis 1931 bei Ullstein als Redakteurin. 1932 emigrierte die Jüdin in die USA.

Vicki Baum. Menschen im Hotel. Berlin: Ullstein, 1929. Aktuelle Ausgaben, auch als E-Book, bei Kiepenheuer & Witsch.

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