Lieblingsbücher, Niederlande, Spanien

Esther Verhoef. Gegenlicht (2014)

Vera ist Ende 30, als sie merkt, dass sie ihr Leben doch nicht so gut im Griff hat, wie sie immer dachte. Als Tierfotografin ist sie nicht sonderlich erfolgreich, ihre Ehe mit dem Unternehmer Lucien Reinders ist nach 20 Jahren eingefahren, auch in die Affäre mit Redakteur Nico investiert sie keine Gefühle. Zu gefährlich. Doch ihr Ehe-Mann scheint eine Affäre zu haben und ihre Gelegenheits-Mann Nico möchte ein gemeinsames Leben. Und dann lernt Vera den Halbbruder ihres Mannes, Aron, kennen und verliebt sich Hals über Kopf.

Als Kind hat Vera Zagt es nicht leicht. Von den Mitschülern wird sie schikaniert und geschlagen. Zu Hause erhält sie keine Unterstützung: ihre Mutter leidet unter starken Depressionen, ist “nicht in Ordnung”, wie es im Hause Zagt genannt wird, und verbringt oft Monate in einer psychischen Klinik. Der Vater, ein Soldat, kann keine Nähe oder Wärme zulassen. Seine Mutter, Veras Oma kümmert sich widerwillig um den Haushalt. Geborgenheit kennt Vera nicht. Als sie zufällig herausfindet, dass die Mutter in einer Klinik ganz in der Nähe ist, besucht Vera sie heimlich. Nach Monaten schmiedet sie dann einen Plan: sie wird mit der Mutter zusammen nach Paris flüchten. Der Versuch scheitert dramatisch.

Der Beschützer und die Affäre

In der Gegenwart hat Vera sich einen Schutzwall aufgebaut. Gefühle scheinen ihr zu gefährlich, schließlich hat sie die Gene ihrer Mutter geerbt. Mit Lucien hat sie sich einen väterlichen Beschützer gesucht, ihr gemeinsames Haus, bezeichnenderweise “das Fort” genannt, ist der penibel ordentliche Rückzugsort vor der Welt. Veras Affäre mit Nico, den sie alle paar Monate heimlich trifft, ist Nervenkitzel und Sex für Vera, intellektuellere Gespräche als mit ihrem Mann, aber nicht mehr. Als Nico nach einiger Zeit mehr möchte und seine Frau verlassen will, zieht Vera sich zurück.

Die Reise

Als Luciens Vater erkrankt und gemeinsam mit der ganzen Familie eine letzte Reise nach Florida unternimmt, lernt Vera Luciens Halbbruder Aron kennen. Die Anziehungskraft zwischen beiden ist groß. Lucien dagegen beschäftigt sich während des Urlaubs viel mit Nichte und Neffe und erkennt, wie wichtig ihm Kinder sind. Vera hatte eigene Kinder immer ausgeschlossen, aus Angst, dass auch bei ihr, wie bei ihrer Mutter, die Depressionen nach einer Geburt ausbrechen würden.

Gefühle zulassen

Zurück in den Niederlanden gehen Vera und Lucien getrennte Wege, wenn auch nicht offiziell: Lucien scheint eine Affäre zu haben, Aron lockt Vera mit einem Foto-Auftrag nach Spanien. Vera lässt sich auf die Affäre ein, die für sie keine ist. Die Gefühle sind so stark, dass sie alle Vorsicht außer acht lässt. Gemeinsam ziehen Aron und sie einige Wochen durch Spanien, eine glückliche Zeit für beide. Als Vera schwanger wird, freuen sich beide, Vera glaubt an eine neu gewonnene Stärke.

Richtung Untergang

Als Vera allerdings alleine in die Niederlande fliegt, kommt Aron nicht wie versprochen nach. Er verunglückt bei einem Motorradunfall. Die von Vera endlich zugelassenen Gefühle wandeln sich natürlich von großem Glück in tiefste Trauer und in Depressionen. Das Leben entgleitet ihr…

Teil I: Einleitung und Vorbereitung

Im ersten Teil des Romans wechselt Autorin Esther Verhoef in kurzen Kapiteln zwischen Gegenwart und Kindheit Veras hin und her. In diesem Teil ist Veras Gegenwart noch eher langweilig, gleichförmig. Der Blick zurück in ihre Kindheit sorgt für Dramatik und das nötige Hintergrundwissen, um die Entscheidungen für ihr aktuelles Leben zu verstehen. Dabei wird Vera auf beiden Zeitebenen gesteuert von Angst, als Kind hat sie keinen Verbündeten, als Erwachsene lässt sie niemanden an ihre Gefühle heran.

Teil II: Dramatik

Mit der Liebe zu Aron hat die Vergangenheit ihre Macht für Vera verloren. Sie lässt sich ein, sie lebt und liebt – im Guten wie im Schlechten. In diesem Teil gewinnt der Roman gewaltig an Kraft. Die dramatischen Ereignisse sind nie kitschig beschrieben. Veras Verzweiflung, ihr Abgleiten in Depressionen wird sprachlich hervorragend umgesetzt und für den Leser sofort fühlbar. Allerdings ist dieser zweite Teil mit der eigentlichen Geschichte wesentlich kürzer als der erste. Das ist einerseits schade, denn zum Beispiel der Heilungsprozess wird nur noch knapp geschildert, obwohl er sicher noch Stoff geliefert hätte. Veras Gefühle spielen wieder keine Rolle, als sie sich langsam erholt – vielleicht hat sie doch wieder beschlossen, dass Gefühle nichts für sie sind. Ihre jüngsten Erfahrungen könnten sie darin bestätigt haben. Doch diese Frage bleibt offen, alles deutet auf ein Happy End mit ihrer Tochter und Nico hin, wieder ein Mann, den sie nicht liebte, der sich aber kümmert und sie beschützt …

Thema Depression

Bei meiner kleinen Recherche zu dieser Rezi habe ich herausgefunden, dass Autorin und Verlag den Roman als Thriller eingeordnet haben. Warum? Hatte ich bisher eine falsche Definition von “Thriller” im Kopf?

Ich habe einfach ein ausgezeichneten Roman über eine Frau und ihre Auseinandersetzung mit der Depression gelesen: Als Kind mit der Depression der Mutter und dem daraus resultierenden “Anderssein” der Familie und der Reaktion der Umgebung; mit der Angst davor, wie die Mutter zu werden; mit der eigenen Depression. Ein psychologischer Roman eher als ein Thriller, in meinen Augen, wenn dann auch vielleicht die Psychologie ein wenig mehr Facetten hätte aufweisen können, um als psychologischer Roman in der obersten Liga mitspielen zu können.

Eine klare Leseempfehlung für jede Frau, die sich für das Thema Depression interessiert und sich auf ruhigere Romane ohne dramatische Action und ohne schmalzige Liebesgeschichte einlassen kann!

Die Autorin

Esther Verhoef-Verhallen ist eine niederländische Autorin, Jahrgang 1968. Sie veröffentlichte zwischen 1995 und 2005 rund 50 Sachbücher über Tiere, auch die Fotos machte sie größtenteils selber. Seit 2003 schreibt sie Thriller, teilweise gemeinsam mit ihrem Mann Berry Verhoef. Sie wurde für zahlreiche Preise nominiert, mehrmals gewann sie auch. Laut Wikipedia lebt sie in Südfrankreich.

Esther Verhoef. Gegenlicht. München: btb, 2014. | Original: Tegenlicht. Amsterdam: Anthos, 2012. Übersetzung aus dem Niederländischen: Stefanie Schäfer.

Vielen Dank für das Rezensionsexemplar.

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