Literatur, Österreich

Eva Menasse. Dunkelblum (2021)

Dunkelblum ist ein Dorf im österreichischen Burgenland, direkt an der Grenze zu Ungarn. Die Älteren erinnern sich noch an andere Grenzverläufe und an die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die Jüngeren richten ihre Aufmerksamkeit in diesem Jahr 1989 eher auf den Zerfall der DDR und des „Ostblocks“. Aber vielleicht hat das in Dunkelblum auch alles miteinander zu tun …

Dunkelblum ist eine Dorfgeschichte mit vielen Protagonisten und vielen Geschichten in der Geschichte. Geschichten aus der Nazizeit und Lebensläufe von alten Nazis. Geschichten aus dem kleinen Grenzverkehr, von Ungarn und Juden, Verfolgten und Versteckten. Von Menschen, die aufgenommen wurden, obwohl sie fremd waren, und anderen, die es nie geschafft haben, dazuzugehören. Von einer Grafenfamilie, denen die Dunkelblumer brave Untertanen waren, obwohl das Schloss längst abgerissen und die Grafen in die Schweiz umgezogen sind.

Differenzierte Charaktere

Im Spätsommer 1989 werden alte Wunden aufgerissen: Ein älterer Mann kommt ins Dorf und stellt Fragen zu Ereignissen im Zweiten Weltkrieg. Eine Gruppe fremder Jugendlicher will den jüdischen Friedhof des Ortes aus seinem Dornröschenschlaf holen. Ein junger Mann kommt nach dem plötzlichen Tod seiner Mutter zurück in den Ort und fragt sich, ob seiner Mutter ihr Interesse an der Ortsgeschichte zum Verhängnis geworden sein könnte. Er lernt die junge Lehrerin kennen, die gemeinsam mit seiner Mutter die Geschichte des Ortes sammeln wollte und die gerne ein „Grenzmuseum“ eröffnen würde. Ein Flüchtling aus der DDR wird im Wald aufgegriffen, die junge Lehrerin verschwindet, auf einer Wiese wird ein Skelett ausgegraben. Die Dorfbewohner sind alarmiert – aber schweigen immer noch. Und beobachten doch genau, was alles vor sich geht.

Alte Geheimnisse

Der Dorfarzt kommt zu Wort, der seit Jahren auf seine Ablösung wartet, der hilflose Bürgermeister, der nicht weiß, wie er das Dorf in der Richtung halten soll, die sein schwer kranker Vorgänger vorgegeben hat. Dorfbewohner, die auf Unabhängigkeit von einem Wasserverbund drängen, Dorfbewohner, die lieber vergessen würden, und einige, die meinen, man solle endlich über alle Geheimnisse reden, die das Dorf so lange bewahrt hat. Auch über die unrühmliche Rolle während der Nazizeit oder gerade über die.

Kosmos Dunkelblum

In Dunkelblum hat Autorin Eva Menasse einen ganzen Kosmos an Charakteren und Ereignissen geschaffen, die kunstvoll ineinander verschlungen sind. Und wunderbar poetisch erzählt, nicht gradlinig, keine stromlinienförmige Unterordnung unter einen Spannungsbogen und Haupt- und Nebenfiguren – überaus gekonnt setzt sich die Autorin über diese Anforderungen an geringere Werke hinweg. Dabei entsteht ein vielschichtiges Bild mit unendlich vielen Facetten, die nur in der Gesamtheit vielleicht dem nahekommen, was als die wahre Geschichte Dunkelblums gelten könnte.

In meinen Augen gehört dieser Roman zur großen Literatur, so kunstvoll ist er in jeder Hinsicht, so faszinierend und mit einem ganz eigenen Sog, der einen in der Geschichte hält, auch wenn sich das Gesamtbild erst nach und nach aus all den vielen Facetten zusammensetzt. Ein gekonnter Blick in die tiefste Provinz.

Eva Menasse. Dunkelblum. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2021.

Vielen Dank für das Rezensionsexemplar!

Und was meinst du dazu?