ausgezeichnet, UdSSR

Gusel Jachina. Suleika öffnet die Augen (2017)

Von der rechtlosen und unterdrückten Bauersfrau wird Suleika zur Jägerin in der sibirischen Taiga – nicht freiwillig, sondern im Rahmen der massenhaften „Umsiedlungen“ nach Sibirien Anfang der 1930er-Jahre. Kälte und Hunger, maßloses Elend sind an der Tagesordnung, und doch findet Suleika zwar nicht „ihr Glück“, das würde sie auch nie ersehnen, aber sie findet eine lohnende Aufgabe und so etwas wie Zufriedenheit.

Suleika ist die kleine Frau eines groben tatarischen Bauern, Arbeit und Angst bestimmen ihren Alltag. Sogar für den Dienst für die Götter muss sie heimlich Zeit und Opfergaben abzweigen. Vier Töchter musste sie schon kurz nach der Geburt wieder begraben, aber die gehässige Schwiegermutter ist zäh. Es ist Anfang 1930, als „rote Horden“ durch das Land ziehen und die Bauern einsammeln zur „Entkulakisierung“. Suleikas Mann Murtasa wehrt sich und wird vom Anführer der Horde, Ignatow, erschossen, Murtasas kleine Frau ist wie gelähmt und lässt sich mittreiben im langen Zug der Schlitten. Warum oder wohin, das sind keine Fragen, die Suleika sich stellt.

Unterwegs

Die Tataren werden interniert, „aufbewahrt“ in einem Gefängnis bis zu ihrer Abfahrt. Wann? Das weiß niemand, niemand fragt, Antworten gäbe es sowieso nicht. Ignatow erhält den Befehl, einen Zug voller „Kulaken“ an ihren Bestimmungsort zu bringen. Wohin? Auch er erhält keine Antwort. Befehl ist Befehl. Dass zu den Kulaken, die wie Vieh in die Waggons gestopft werden, auch die kleine Frau mit den großen grünen Augen gehört, bemerkt Ignatow immerhin. Der Hunger reist natürlich mit, Verpflegung gibt es nicht, die große Planwirtschaft kann sich nicht mal an ihre eigenen Pläne halten. Sechs Monate irrt der Zug durch die noch recht neue UdSSR, viele sterben an Hunger oder Krankheiten, eine Handvoll schafft es zu fliehen – für Suleika keine Option, sie bleibt.

Ziel: mitten im Nirgendwo

Vom Zug werden Ignatows Kulaken auf einen altersschwachen Kahn umgeladen, der im Sturm sinkt. Nur Suleika, die trotz ihrer Schwangerschaft die lange Zugfahrt überlebt hatte, kann Ignatow retten, sie muss ihm als Symbol herhalten, dass er nicht völlig versagt hat. Nur eine Handvoll Menschen aus seinem Transport kommen lebend in der gottverlassenen Taiga an, wo sie alle zusammen quasi ausgesetzt werden. Ignatow mit ihnen. Ohne Proviant, ohne Dach über dem Kopf, ohne ausreichende Kleidung. Doch irgendwie schafft es diese kleine Zwangsgemeinschaft, einen Winter in der Taiga zu überstehen. Und Suleika hält sogar ihren kleinen Sohn am Leben. Die Menschen sind längst abgestumpft, haben Hoffnungen begraben.

Planerfüllung

Danach geht es aufwärts – im Sinne der UdSSR. Noch mehr Menschen kommen in das Arbeitslager, aber auch Materialien, man errichtet Baracken, bekommt ein Plansoll für Holz, das erfüllt werden muss … Manche finden hier wieder zu sich, wie der deutsche Professor, ein Mediziner, der hier auf einmal wieder gebraucht wird. Manche suchen sich mühsam eine Nische zu erarbeiten, wie der Maler, der offiziell Propaganda-Bilder malt, damit er heimlich seine Träume von St. Petersburg und Paris auf Sperrholz bannen kann. Kommandant Ignatow verzweifelt fast an seiner Aufgabe und der Verbannung, der Selbstgebrannte erweist sich als treuer Freund vieler. Mag sein, dass hier das Zusammenleben der „Alteingesessenen“ ein wenig idealisiert wird, wie ein Rezensent in der Neuen Zürcher Zeitung anmerkte, aber der großartigen Geschichte schadet das nicht.

Arbeiterin und Mutter

Suleika lebt nur noch für ihren Sohn Jussuf, arbeitet natürlich immer noch in jeder Minute des Tages, erst in der Kantine, dann im Lazarett, eine Zeitlang als Jägerin, der Höhepunkt an Freiheit und Selbstverwirklichung für sie. Die Liebe zu Ignatow opfert sie für ihren Sohn. Oder irgendeinen Gott, der seinen Zorn gezeigt hat, weil sie Ignatows Nähe genossen hat. Als Jussuf mit 16 nach Leningrad will, um dort Kunst zu studieren, endet Suleikas Leben … irgendwie. Doch eine Andeutung von Happy End versöhnt am Ende ein wenig mit all dem Elend, als Leserin kann man für Suleika noch auf ein wenig Leben hoffen. Dass Autorin Gusel Jachina eine solche Reise, solche Schicksale, so viel Hunger und Elend erzählen kann, ohne in Klischees zu verfallen, ohne wehleidig zu werden oder Mitleid einzufordern – eine wahre Meisterleistung.

Fremd und meisterhaft

Dieser Roman ist eine Reise durch Raum und Zeit, zu völlig unbekannten Schauplätzen, in – für uns heute – ungewöhnliche und exotische Lebenswelten. Aber er fasziniert und packt die Leserin, gespannt verfolgt man (nicht nur) ein Frauenschicksal, das für seine Zeit und seinen Ort vermutlich gar nichts Besonderes war, eines von unendlich vielen. Doch dass das der heutigen Leserin nahegeht, dafür sorgt die spannende Erzählweise der tatarischen Autorin und Filmemacherin Gusel Jachina, die mit wenigen Worten so eindringliche Bilder zeichnet, dass es gar nicht mehr nötig ist, über die Gefühle oder die „Seelenlage“ der Protagonisten zu reden. Für mich eine echte Überraschung, wie packend die Autorin uns Suleikas Geschichte über Raum und Zeit hinweg nahebringen kann, das wirkt echt und ungekünstelt. Dass es sich bei diesem schriftstellerischen Debüt um die Geschichte der Deportation von Jachinas eigener Großmutter handeln soll, schmälert die meisterhafte Erzählweise kein bisschen. Auf jeden Fall eine sehr empfehlenswerte Lektüre für einen weiten Blick über den eigenen Tellerrand.

Gusel Jachina. Suleika öffnet die Augen. Berlin: Aufbau, 2017. | Russ. Original: Moskau 2015. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger.

Der Roman wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

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