Schweden

Marie Hermanson. Muschelstrand (2000)

Im neuen Sommerhaus der Familie an der Küste lernt Ulrika die faszinierende Familie Gattman kennen. Als die Familie ein indisches Waisenmädchen adoptiert, verschwindet dieses kurz darauf auf unerklärliche Weise. Wochen später wird sie unversehrt wiedergefunden – aber die Familie zerbricht daran. Jahre später kommt Ulrika zurück in den Ort ihrer Sommerferien.

Ulrika erforscht Bergverschleppungsmythen, hat darüber wissenschaftliche Arbeiten verfasst und hält Vorträge. An einem freien Tag will sie ihren kleinen Söhnen den Ort ihrer verzauberten Kindheitssommer zeigen: Das Haus der Familie Gattman steht leer, der Muschelstrand ist nur noch ein ganz gewöhnlicher Strand und ihre Söhne finden in einer Höhle ein Skelett. Doch für Ulrika ein Anlass, sich an die Sommerferien ihrer Kindheit zu erinnern …

Goldene Kindheitssommer

Einzelkind Ulrika fand die Familie Gattman vom ersten Tag an faszinierend. Das Journalisten-Ehepaar aus Stockholm gewährte den vier Kindern viele Freiheiten, alles schien Ulrika fröhlicher und offener als in ihrem Dasein als Einzelkind eines kleinbürgerlichen Zahnarztes aus Göteborg. Als sich die jüngste Gattman-Tochter, Anne-Marie mit Ulrika anfreundet, beginnen für diese die goldenen Sommer. Ältere Geschwister hatte sie sich auch immer schon gewünscht. Gemeinsame Bootsfahrten, schwimmen am eigenen Strand – Marie Hermanson bringt sehr gut rüber, was diese Sommer für Ulrika so golden und unwiderstehlich machten.

Dramatischer Mittsommer

Als Teenager darf Ulrika dann endlich einen Sommer bei den Gattmans wohnen, weil ihre Eltern nicht ins Ferienhaus fahren können. In diesen Wochen allerdings wird alles anders. Gattmans haben kurz zuvor in Indien die kleine Maja adoptiert, die jetzt zum ersten Mal mit im Sommerhaus ist. Das Mädchen spricht nicht, Zärtlichkeiten sind ihr unangenehm, aber sie folgt Anne-Marie sehr eifrig. Deshalb nehmen die Kinder sie auch mit zum Zelten auf einer entlegenen Schären-Insel, wo sie die Mittsommernacht feiern. Am nächsten Morgen ist Maja verschwunden.

Schuldgefühle und Fluchten

Die Familienmitglieder verfallen in tiefe Verzweiflung, Schuldgefühle und Selbstvorwürfe. Die aufwendige Suche nach Maja bleibt erfolglos. Erst sechs Wochen später wird sie gefunden: auf einem winzigen Felsvorsprung. Niemand kann sich erklären, wie sie dorthin gekommen sein kann. Dem Mädchen geht es gut, offenbar hat sich jemand um sie gekümmert – doch wer dies gewesen sein könnte, dazu sagt Maja natürlich nichts. Auch die Wiedersehensfreude der Adoptivmutter lässt sie nur über sich ergehen. Vater Gattman findet keinen Weg zurück mehr aus dem Alkohol, der ihn getröstet hatte. Die Familie geht auseinander, auch der Kontakt zu Ulrika reißt danach ab.

Verbindung zur Vergangenheit

Erst als Ulrika kurze Zeit nach dem Skelett-Fund noch einmal alleine in den Ort kommt, trifft sie im Haus der Gattmans auf Jens, Anne-Maries Bruder. Der erst kann ihr sagen, was aus den Familienmitgliedern geworden ist. Und er gibt ihr eine Erzählung zu lesen über Kristina, eine junge Frau mit psychischen Problemen, die in der Zeit ihrer Feriensommer ganz alleine auf einer der Schäreninseln lebte – eine Erzählung, die die Leserin viel früher als Ulrika mitlesen kann, denn Marie Hermanson hat sie bereits früh als zweite Erzählebene in den Roman eingebaut.

Kleiner feiner Roman, schwebend im Sommer

Die goldenen Feriensommer unserer Kindheit – Marie Hermanson kann diese wunderbar lebendig machen, Ulrikas Faszination und Träumereien kann man bestens nachempfinden. Dabei wird das Verschwinden Majas fast mit kriminalistischer Spannung erzählt, der gekonnte Aufbau mit den unterschiedlichen Erzählebenen führt zur Auflösung auch dieses Falles. Hermansons Erzählton ist dabei leicht, oft schwebend wie die Sommerferien, und doch verleiht sie ganz nebenbei ihren Figuren Charakter und Tiefe. Ein kleiner feiner Roman, der mich beim zweiten Lesen genauso fasziniert hat wie bereits vor zwanzig Jahren.

Marie Hermanson. Musselstranden. Roman. Stockholm: Albert Bonniers förlag, 1998. | Muschelstrand. Ffm: Suhrkamp Verlag, 2000. Übersetzung Regine Elsässer.

Mehr zur Autorin und weiteren Werken von ihr auf der Autor:innen-Seite Marie Hermanson.

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