Frankreich, Literatur

Lisa-Maria Seydlitz. Sommertöchter (2012)

Juno erfährt aus einem geheimnisvollen Brief, dass sie scheinbar ein Haus in der Bretagne geerbt hat, von dem sie bisher nichts wusste. Auch ihre Mutter will nicht über das Haus reden – doch sie gibt Juno die Schlüssel mit, als sie beschließt, dem Geheimnis des Häuschens auf den Grund zu gehen. In der Bretagne lernt Juno vieles über ihre Familie, das immer vor ihr versteckt wurde.

Ende einer glücklichen Kindheit

Parallel zur Reise Junos erzählt Autorin Lisa-Maria Seydlitz von Junos Kindheit. Ihr Vater kämpfte mit schweren Depressionen, von einem langen Klinikaufenthalt ist die Rede. Auch beruflich war Junos Vater viel unterwegs, ihre Mutter und sie haben häufig auf seine Rückkehr gewartet. Doch die glücklichen Zeiten im großen Haus am Stadtrand sind schon vorbei, als die Geschichte beginnt.

Perspektive des Kindes

Seydlitz erzählt die Familiengeschichte aus der Sicht des Kindes Juno in einer fast kargen Sprache. Aus der Perspektive des Kindes macht auch nicht alles Sinn, manchmal sind es Eindrücke des Kindes, nicht logisch, nicht in der richtigen zeitlichen Abfolge erzählt, aber umso eindringlicher in ihrer Wirkung auf Juno und auf die Leser.

Alles hinter sich lassen

Der Vater begeht Selbstmord an seinem Geburtstag, den die Mutter mit Gästen im Garten feiern wollte – er taucht bei der Geburtstagsfeier gar nicht erst auf. Nach seinem Tod will die Mutter alle Erinnerungen an dieses Leben hinter sich lassen. Sie zieht mit Juno in eine Pension, alles wird im Haus zurückgelassen, lieber kauft die Mutter Kleidung und andere Dinge neu. Und irgendwie lässt sie auch ihre Tochter in diesem Haus zurück … die Mutter habe nie mit ihr über das alte Leben sprechen wollen. Stattdessen sucht sie sich einen neuen Mann, bekommt noch eine Tochter – sie sucht eine zweite Chance für ihr Glück. Doch wirklich lebendig wirkt sie auf ihre ältere Tochter Juno schon lange nicht mehr.

Urlaubserinnerungen

In der Bretagne findet Juno das kleine Haus in einem Dorf voller deutscher Touristen und erinnert sich, dass sie als Kind einmal mit den Eltern dort war. Der Vater hatte stolz das Haus präsentiert, aber die Mutter wollte nichts davon wissen und die Familie verbrachte die Ferien in einem Hotel. Niemand kümmerte sich darum, was aus dem Häuschen geworden ist.

Juno trifft Julie und Jan

Als Juno ankommt, hat das Haus eine Bewohnerin: Julie aus Südfrankreich, die sehr gut Deutsch spricht. Die beiden jungen Frauen arrangieren sich im Haus, scheinbar ohne viele Worte. Der Nachbar Jan sorgt für Partystimmung und erotisches Knistern und verschwindet wieder in Unverbindlichkeit. Immerhin macht er die beiden Frauen darauf aufmerksam, wie ähnlich sie sich sehen…

Schweres nüchtern erzählt

Lisa-Maria Seydlitz erzählt in Sommertöchter eine schwere Geschichte auf eine leichte Weise: Der Selbstmord des Vaters zerstört die Familie des Kindes Juno – eine Familie, die nur in der vagen Erinnerung des Kindes mal glücklich gewesen sein musste. Die Rückblenden offenbaren ein verunsichertes Kind, in einer nüchternen Sprache präsentiert Seydlitz die Erinnerungsfetzen aus der Kindheit Junos, Erklärungen oder Gefühle finden sich hier kaum. Der Leser ist gefordert: zusammensetzen, deuten muss er das Geschehene selber. Und auch wenn sich der Schwerpunkt der Handlung mehr und mehr in die Gegenwart verschiebt, in der Juno durchaus ein paar intelligente Überlegungen anstellt und Gefühle wenigstens angedeutet werden, bleibt Wesentliches immer unausgesprochen, Profanes ganz verbannt.

Zukunft

Das Geheimnis um das Haus und um Julie lüftet Juno, schwierig ist es nicht wirklich, schwierig machen es höchstens die drei jungen Leute, die nicht offen reden können oder wollen. Wichtiges wird nicht ausgesprochen – soll eine Unverbindlichkeit erhalten bleiben? Und das neue Wissen um ihre Familie – verändert es Junos Gefühle für ihren Vater? Ihre Sicht auf ihre eigene Vergangenheit als Familie? Ihr Verhalten? Ihre Pläne für die Zukunft? Nur auf diese letzte Frage bietet Seydlitz dem Leser eine direkte Antwort: Im nächsten Sommer renovieren Juno und Julie gemeinsam das Häuschen in der Bretagne. Ein kurzer Ausschnitt – den Rest muss sich der Leser aus den kargen Worten selber zusammenreimen, wenn er mehr wissen möchte.

Populäre Struktur – anspruchsvoller Stil

Auch wenn Sommertöchter aus Zutaten zusammengesetzt ist, die weit verbreitet sind in der aktuell populären Belletristik – eine junge Frau erzählt eine Familiengeschichte um ein Geheimnis mit Hilfe vieler Rückblenden – ist der Roman kein gefälliger Schmöker. Lisa-Maria Seydlitz schafft durch ihre karge Sprache, die so vieles nur indirekt andeutet, daraus eine ganz besondere Geschichte mit einem ganz eigenen, fesselnden Stil.

Die Autorin Lisa-Maria Seydlitz wurde 1985 in Mannheim geboren. Sie studierte Kreatives Schreiben und erhielt bereits diverse Stipendien. Sommertöchter ist ihr erster Roman.

Lisa-Maria Seydlitz. Sommertöchter. Köln: Dumont, 2012.

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