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Majgull Axelsson. Ich heiße nicht Miriam (2015)

Miriam Adolfsson lebt seit über sechzig Jahren in einer kleinen Stadt in Schweden, eine elegante alte Dame. Doch am Tag ihres 85. Geburtstags kann sie ihre Geschichte, die sie so lange sorgsam verborgen hatte, nicht länger für sich behalten.

Als Miriam am Mittsommertag aufwacht, an dem Tag, den sie sich als Geburtstag ausgesucht hat, ist eigentlich alles wie immer: Ein schöner Sommertag, ihr Sohn Thomas mit Ehefrau, Enkelin Camilla mit ihrem kleinen Sohn sind da, um mit ihr gemeinsam ihren 85. Geburtstag zu feiern. Den 85. Geburtstag von Miriam. Doch schon beim Aufwachen sind Miriams Erinnerungen besonders lebendig, und nach der ersten Gratulationsrunde sagt sie ihrer Familie: Ich heiße nicht Miriam.

Dammbruch

Weder Sohn noch Enkelin reagieren in diesem Moment. Doch später machen Miriam und Camilla einen ihrer geliebten Spaziergänge rund um den See, und Miriams Erinnerungen lassen sich nicht mehr wegsperren, zum ersten Mal erzählt sie aus ihrer Vergangenheit. Denn Miriam hieß eigentlich Malika, war eine Roma und kämpfte in Auschwitz und Ravensbrück ums Überleben. Sie musste mitansehen, wie ihre Cousine Anuscha starb, wie ihr Bruder Didi an den Experimenten eines Mengele elend zugrundeging, sie erlebte hautnah, wie sehr sogar die Mitinsassen die Roma verachteten und hassten.

Verachtung

Auf dem Transport nach Ravensbrück musste Malika neue Kleidung für sich organisieren, es war die einer Miriam Goldblum. Und so wurde aus Malika Miriam, eine Jüdin. Zwar mehr gehasst von den SS-Aufsehern, aber wenigstens ein Mitglied der Gemeinschaft der Insassen. Nach Malikas Erfahrung, hatten es die Juden doch noch besser als die Roma. Sogar als sie gegen Ende des Kriegs nach Schweden kam, musste sie mitansehen, wie Zigeuner vom Mob verfolgt wurden, sie bekamen keine Einreisegenehmigung – also durfte niemand erfahren, dass Miriam eigentlich Malika heißt.

Integration

Auch wenn Miriam in gewisser Weise ihr Glück gefunden hat, ihr Mann Olof war ein angesehener Zahnarzt, ihrem Stiefsohn Thomas war sie eine gute Mutter, ein schönes Haus, eine angesehene Stellung in der Stadt – immer musste sie ihr Geheimnis gut bewahren, immer noch hatte sie Angst, ausgegrenzt, verstoßen zu werden. Nur in der Rolle der Miriam konnte sie in diesem Land, in diesem Leben bestehen. Ihre Erinnerungen musste Miriam für sich behalten, auch weil ihr Mann Olof nie darüber reden wollte, was sie durchgemacht hatte, weil er meinte, es wühle sie zu sehr auf. In die Zukunft sehen, war seine Devise, die Miriam so gut es ging übernahm. Aber an ihrem 85. Geburtstag geht das auf einmal nicht mehr, vielleicht, weil nicht mehr viel Zukunft vor ihr liegen kann. Und so erzählt Malika ihrer Enkelin Camilla nach und nach von ihrer Kindheit und Jugendzeit.

Ausgezeichnet

Ein großartiger Roman, der völlig zu Recht die BMF-Plakette (einen schwedischen Literaturpreis des Buchhandels) erhalten hat. Majgull Axelsson erzählt sagenhaft gut, kontrastiert die helle leichte Stimmung des Mittsommertags, an dem Miriam und Camilla um den See wandern, mit der Düsternis und all dem Leid in Auschwitz und Ravensbrück. Dabei driftet sie nie in Plattitüden ab, die Perspektive ist immer Miriams, die kein Selbstmitleid kennt, die sich nicht für größere Zusammenhänge interessiert, sondern nur für etwas zu essen, zum Anziehen, einen Schlafplatz. Alltägliche Kleinigkeiten, aus denen sich das Bild des Grauens zusammensetzt und die die Leserin so unmittelbar in die Handlung ziehen, dass sie mit Miriam friert und hungert, ihre Angst mitempfindet und ihre unfassbare Stärke und ihren Überlebenswillen bewundert. Ein Roman, den ich atemlos verschlungen habe und der auf jeden Fall einen Platz auf der Liste meiner Lieblingsbücher verdient hat!

Majgull Axelsson. Ich heiße nicht Miriam. Berlin: List, 2015. | Original: Jag heter inte Miriam. Stockholm: Brombergs Bokförlag AB, 2014. Übersetzung Christel Hildebrandt.

Mehr zur Autorin auf der Autorenseite Majgull Axelsson.

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