Italien, Literatur, Schweiz

Rosetta Loy. Schokolade bei Hanselmann (1996)

In der Zeit des Faschismus und des Zweiten Weltkriegs wurden Juden nicht nur in Deutschland verfolgt. Mit der deutschen Besetzung von Frankreich und einem Pakt mit Mussolini verringerten sich Fluchtmöglichkeiten, die Schweiz schien eine kleine Chance zu bieten. Das jedenfalls dachte der jüdische Biologe Arturo Cohen nach seiner Flucht aus Rom, dann aus Marseille zur Familie Arnitz ins Engadin. Dort weiß zwar niemand genau, wer er ist, aber er löst dramatische Ereignisse aus.

Die junge Römerin Lorenza beobachtet interessiert ihre Eltern Isabella und Enrico und den vertrauten Umgang mit dem Freund und Kollegen Arturo Cohen. Der junge Mann scheint die Familie zu bezaubern, sein Klavierspiel unterhält auch die Kinder, Mutter Isabella ist entzückt. Selbst Lorenza bemerkt die subtilen Spannungen zwischen Arturo und Isabella, auch wenn sie sie nicht einordnen kann. Es scheint eine verzauberte Zeit für das Kind.

Die Schweizer Familie

Als Lorenza zur beinahe unbekannten Oma „Frau Arnitz“ in die Schweiz geschickt wird, weil sie sich dort erholen soll, lernt sie eine ganz andere Art von Familie kennen. Im Mittelpunkt steht die 19-jährige Margot, angehende Femme fatale und Halbschwester von Isabella, um deren Aufmerksamkeit jeder buhlt. Der rundliche Eddy ist der Sohn des zweiten Mannes von Frau Arnitz, Marisetta ist eine Enkelin, die Tochter des verstorbenen Sohnes von Frau Arnitz. Ihre Freundin Vivia begleitet Marisetta. Eine zusammengewürfelte Hausgesellschaft, der Frau Arnitz vorsteht – zwischen großbürgerlicher Dame und Trauer und Hilflosigkeit.

Der Flüchtling

Jahre später kommt Arturo als Hausgast zur Familie, dass er ein jüdischer Flüchtling ist, weiß zunächst niemand, genauso wie die Verbindung zur Tochter Isabella unbekannt ist. Margot verliebt sich in den düsteren Fremden, ignoriert alle Widerstände und flüchtet schließlich mit ihm in ein Leben im Untergrund. Erst viel später erfährt sie, dass Arturo, um sich vor Verrat zu schützen, ihren Kindheitsfreund Eddy umgebracht hat. Fragen rund um diese Schuld führen schließlich auch zum Scheitern der Ehe.

Spurensuche

Nach dem Krieg macht sich Lorenza auf Spurensuche, um mehr über die Dramen in ihrer Familie zu erfahren. Ihre Mutter Isabella ist schon vor Jahren gestorben, Arturo nach Israel ausgewandert. Sie findet Margot in einem kleinen Häuschen in der Schweiz, wo sie das Leben einer Einsiedlerin führt und ihrer Nichte nach und nach von ihrem Leben berichtet. – Doch was sich hier fast als stringent erzählte chronologische Geschichte darstellt, erzählt Autorin Rosetta Loy auf ihre ganz eigene Weise …

Eigener Stil

Als der Roman vor über 20 Jahren erschien, wurde er mit viel Lob bedacht und erschien monatelang in den Bestsellerlisten. Jetzt gibt der Piper Verlag den Roman als Taschenbuch und E-Book heraus – hat die Liebestragödie aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Deutschland erneut ein Publikum zu erwarten?

Interessant ist auf jeden Fall die Situation der jüdischen Flüchtlinge im Ausland und auch das Drama, das sich in der Familie und den Schweizer Bergen entfaltet. Rosetta Loy erzählt dies auf eine faszinierende Weise: Beobachtungen des Kindes Lorenza, häufig scheinbar unzusammenhängend, so weit eben der Horizont des Kindes reicht. Einzelheiten und Kleinigkeiten, die doch so oft auf die großen Themen des Lebens weisen, Leben und Lieben, Verfolgung, Schuld, Tod. All das ist sehr genau beobachtet, erklärt wird nicht viel, Dialoge sind Mangelware. So ergibt sich ein Kaleidoskop aus Blicken und Momenten, die sich am Ende zum Leben zusammensetzen lassen. Das ist nicht immer ganz einfach zu lesen, aber sehr faszinierend, wenn man sich mit etwas Ruhe auf den Roman einlassen kann. – Und wenn es gelingt, die zahlreichen Tipp- oder sonstigen Fehler, jedenfalls in der E-Book-Ausgabe, zu ignorieren. Wobei schon die alte Rechtschreibung immer wieder Schreibweisen bietet, über die der Lesefluss heute eher stolpert. Das ist auf jeden Fall schade.

Rosetta Loy. Schokolade bei Hanselmann. München: Piper, 1996; Taschenbuch und E-Book 2019. | Cioccolata da Hanselmann. Mailand, 1995.

Vielen Dank an NetGalley und den Piper Verlag für das Rezensionsexemplar (E-Book).

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